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Über: Lorne Carl Liesenfeld Die stille Gegenwart der Photographie

von Hans Durrer


Ich bin voreingenommen. Und habe so recht eigentlich keine Lust, mich auf neue Terminologien einzulassen. Und auf immer neue Unterscheidungen schon gar nicht. Weil ich sie allzu oft nicht hilfreich, sondern höchstens akademisch, also ziemlich überflüssig gefunden habe.


Ich gehe also Lorne Carl Liesenfelds Terminologie in Die stille Gegenwart der Photographie skeptisch an; er unterscheidet zwischen dem Ich der Photographie und dem Ich des Photographen.


Das Ich des Photographen meint den Menschen, der fotografiert, den Fotografen. Mit dem Ich der Photographie bezeichnet er die „Verkörperung des fotografischen Prozesses in Form von Kamera, Objektiv und Film“.


Die Unterscheidung macht meines Erachtens Sinn – denn die Möglichkeiten, die ein Photograph hat, werden durch die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen (Kamera, Objektiv, Film) definiert. Die Terminologie finde ich hingegen nicht nur gewöhnungsbedürftig, sondern irreführend, denn unter einem Ich verstehe ich (!) ein Bewusstsein, das selbstständig wählen und entscheiden kann. Und dies kann weder eine Kamera, noch ein Objektiv, noch ein Film.


Für mich sind Kamera, Objektiv und Film unbeseelt, für Lorne Carl Liesenfeld offenbar nicht. Sein Ich der Photographie hat „genau definierte Bedürfnisse“ sowie „eine eigene Werteskala und es vertritt wie der Fotograf seinen philosophischen Standpunkt. Und vor allem hat es eine eigene Sicht auf die Welt.“


Mich erinnert das an W.J.T. Mitchells Frage „What do pictures want?“, der offenbar die Vorstellung zugrunde liegt, dass Fotos ein Eigenleben haben, ja gleichsam über magische Kräfte verfügen. Das haben sie in der Tat – es sind die, die wir ihnen zuschreiben.


Lorne Carl Liesenfeld Ansatz scheint mir realistischer. „Das Ich der Photographie behandelt alle und alles gleich.“ Ethische Kriterien spielen dabei keine Rolle, diese haben ihren Platz im Ich des Photographen.


Auf dieses Ich des Photographen wirken, so Liesenfeld, „das Körperliche, das Biologische und das Individuelle Bewusstsein“ ein. Wiederum stört mich die irreführende Wortwahl „Bewusstsein“, doch dem, was gemeint ist, stimme ich zu. Es ist in der Tat so, dass die körperliche Verfassung des Fotografen, sein Alter und sein persönliches und soziales Bewusstsein mitbestimmen, was und wie er fotografiert. Und es ist ausgesprochen selten, dass mal einer darauf hinweist.


Was mich ganz besonders an „Die stille Gegenwart der Photographie“ anspricht, ist, dass Liesenfeld Fragen aufgreift, die mich selber immer wieder beschäftigt haben. Zum Beispiel die, ob der Fotograf ein Künstler sei. „Ein wichtiger Faktor auf dem Kunstmarkt ist ebenfalls der Nimbus des Künstlers als Schöpfer. Auch hier steht das 'Ich der Photographie' der Glorie des Fotografen im Wege, denn es ist ganz offensichtlich, dass der Photoapparat die Bilder macht, und dass der Photograph eine Photographie eher 'in Auftrag gibt'“. Treffender habe ich das bisher noch nirgendwo formuliert gefunden.


In der Photographie verberge sich die Wahrheit nicht hinter einer Fassade, schreibt Liesenfeld. Und: „Ich bemühe mich, die Wahrheit anhand der Oberfläche zu zeigen. Ich habe gelernt, die Welt durch das Auge des 'Ich der Photographie' zu betrachten.“


Mich erinnern diese Ausführungen an Mont Redmonds von mir sehr geschätzte Essays – „Wondering into Thai Culture“. Hier argumentiert er, im Buddhismus gehe es nicht darum, hinter die Dinge zu sehen, sondern den Dingen ihre vermeintliche Tiefe zu nehmen. „'No self, no permanence, no happiness' means: seek no more. What you see is what you get, and what you’re seen to be is what you’ve got.“


Winogrand sei es nicht um die fertigen Aufnahmen gegangen, so Liesenfeld, sondern „lediglich ums Sehen, ums Photographieren an sich, um diese einzigartige Verbindung mit dem Leben selbst“. Ihm selbst geht es offenbar auch um diese Verbindung, denn er will – wie er das Fotografieren von Marienfiguren in Medjugorje am Karfreitag 2007 beschreibt – „keine Geschichten erzählen, sondern nur sehen, entdecken und aufzeichnen“. So kann das Fotografieren zur Hingabe an die Gegenwart werden.


Lorne Carl Liesenfeld
Die stille Gegenwart der Photographie
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014
www.koenigshausen-neumann.de


14.09.2015


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