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Blog zur zeitgenössischen Fotografie
und digitalen Bildkunst
 

 
von Thomas Wiegand

Ein Vorwort für die Neuausgabe des London-Buches von Gian Butturini (1935-2006) hat Martin Parr sein Ehrenamt als Präsident des Bristoler Fotofestivals gekostet, weil der italienische Fotograf seinerzeit eine Doppelseite aus den Fotos einer schwarzen Frau und eines Gorillas hinter Gittern kombiniert hatte, was Parr unkommentiert ließ. Die fatale Dynamik dieser von Rassismus-Vorwürfen befeuerten Affäre wurde von Moritz Neumüller ausführlich nachgezeichnet, weshalb hier darauf nicht weiter eingegangen werden soll (siehe Link und Literaturverzeichnis im Anhang). Bei dem 2017 erschienen Band handelt es sich im Übrigen nicht um einen Reprint, sondern, weil in manchen Details verändert, um eine Neuausgabe bzw. Neuauflage.


Die Frage ist, was Butturini mit seinem 1969 im Eigenverlag produzierten und in 1000 Exemplaren erschienenen Fotobuch erreichen wollte. Ist es 2014 zu Recht von Parr und Badger in ihren Fotobuchkanon aufgenommen worden oder ist es vielleicht schlichtweg missraten? Wie ist das London-Buch im Kontext der sonstigen Fotobücher von Butturini zu sehen? Was war überhaupt der Hintergrund von Butturinis Arbeit? Dazu einige Anmerkungen.



Das London-Buch


Moritz Neumüller wies darauf hin, dass das Buch nicht einfach London hieße, sondern London by Gian Butturini und führt dafür Belege auf. Butturini selbst nannte es mal so, mal anders. So hat es in seinem Buch über das revolutionäre Kuba (1971) oder in den Bibliografien in den späteren (touristischen) Bildbänden über Venedig (1988) und Prag (1989) und im Mauer-Buch von 1991 den längeren Titel, während es in dem kleineren Chile-Buch von 1973 und im Frauen-Buch von 1995, das im Anhang eine ausführliche Bio-Bibliographie enthält, schlicht als (London gelistet wird. Butturinis Buch ist deutlich von der Pop Art beeinflusst, wo der Ausdruck des Lifestyles sicherlich wichtiger war als dröge Regeln für eine korrekte Titelaufnahme für Bibliotheken und Bibliographien. Ich möchte es im Folgenden beim kürzeren Titel „London“ belassen.


Wenn man sich nur den Text auf Schutzumschlag, Einband und Innentitel ansieht, könnte man durchaus zum Ergebnis kommen, dass das Buch tatsächlich nur London heißt und der typografisch untergeordnete Schriftzug „by Gian Butturini“ lediglich den Autor nennt. Aber warum dann bei einem italienischen Buch das englische „by“? Man könnte das „by“ einen modischen Schlenker nennen, so wie Kreative vom Schneider bis zum Friseur gern ihre Produkte mit dem „by“ als Kreationen, als etwas Besonderes, kennzeichnen. Vorwortautor Luciano Mondini spekulierte, dass „gianbutturini“ eine Marke hätte werden können wie „pininfarina“. Die Verwendung des „by“ weist in eine ähnliche Richtung und könnte ein Erbe aus Butturinis bisherigem Umfeld in der Welt der Werbung sein. Vielleicht darf man das „by“ aber auch als pure Ironie verstehen, weil im saloppen Gewand des Pop deutliche Kritik an den Verhältnissen geübt wird. Butturini diente die zeitgeistige Ästhetik als Vehikel, um etwas ganz anderes zu vermitteln.


Das Buch offenbart auf den ersten Blick die Wahrnehmung einer lockeren Atmosphäre. Unschärfen, grobes Korn und kunstlos, bewusst gegen das Treffen eines entscheidenden Augenblicks erhaschte Momente lassen den Band als optisches Skizzenbuch erscheinen. Es gibt keine touristischen Ansichten, es wird kein für London typisches Programm abgehakt. Butturini war seinerzeit erfolgreich als Designer tätig; man darf davon ausgehen, dass er sehr wohl wusste, wie Fotos wirkten und wie er sie für seine Bücher in Beziehung zu setzen hatte, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen. Er schreibt dazu in seinem Vorwort (nach der englischen Version von 2017): „Dieses Buch hat kein Davor und Danach, es soll nichts beweisen, nichts widerlegen oder von etwas überzeugen. Es enthält die fotografischen Notizen eines Mannes, der auf der Straße zwischen anderen Menschen unterwegs war. Ich machte tausende davon und wählte aus, verwarf und beschnitt. Dann die Montage: ein paar Kontrastpaare, gelegentlich etwas Ironie, ein Hauch von Mitleid, ein verhaltenes Lächeln. Ich würde das noch nicht einmal einen Kommentar nennen. Es gibt keine Bildunterschriften, Erläuterungen oder kluge Bemerkungen.“ Aus dieser Aussage spricht pures Understatement. Selbstverständlich hat er sein Ziel, eine authentische, lebendige und klischeefreie Aussage über London zu machen, erreicht. Dass diese „fotografische Notizen“ aber nicht neutral sein konnten, auch wenn sie von einem Unbeteiligten stammen, leugnet Butturini nicht.


Der Blick in das Buch offenbart neben einer zuweilen filmartigen Montage und etlichen freigestellten Motiven einige weitere gestalterische Auffälligkeiten. Zum Beispiel wird ein alter Mann, der durch eine an seiner Jacke befestigten kleinen Flagge mit Davidstern als Jude oder als Sympatisant Israels gekennzeichnet ist, einer Fotografik mit drei Reihen Stacheldraht gegenübergestellt. Blättert man um, bleibt man am Hakenkreuzemblem auf der Kleidung eines Jungen hängen. Wenig später ist das Bild einer auf einer Bank sitzenden, den Fotografen anblickenden jungen Frau mit modischer Frisur auf der rechten Seite abgerissen, sodass man die Kante des Fotopapiers erahnen kann. Der Rest der Doppelseite ist schwarz. Dreimal kommt die englische Flagge in grafisch verfremdeter Form vor, ganz am Anfang als Ausschnitt in weiß auf schwarz, weiter hinten umgekehrt und zusätzlich fleckig in schwarz auf weiß und noch ein paar Seiten später auf das Kreuz in der Mitte reduziert mit dem Bild eines bärtigen Langhaarigen – man könnte an den Gekreuzigten denken. Der zerrissene Text kommt nochmals vor, und zwar gegenüber eines Bildes des selben Mannes, der jetzt gravitätisch eine Treppe hinabsteigt, in Form eines italienischen Textes über den jungen Jesus. Eine weitere fotogrammartige Grafik aus Butturinis Dunkelkammer zeigt einen weißen Riss im schwarz einer rechten Seite. Gegenüber hantiert ein Mann mit Brille mit einem Gegenstand, der wie eine Spritze aussieht. Weitere sprechende Gegenüberstellungen zeigen eine Demonstration der Kommunisten und einen auf einem Stapel Bohlen sitzenden Mann mit verschmutzter Kleidung, ein Transparent, das sich auf tote und verwundete Kinder im Krieg in Vietnam bezieht und darunter zwei Kinder, davon eines vermutlich asiatischer Herkunft, vor einer Werbung für Apfelsaft. Und es gibt natürlich die nun berühmte Doppelseite mit dem Affen und der schwarzen Fahrkartenkontrolleurin, aber, der Kontext zeigt es, diese ist keinesfalls diskriminierend gemeint, sondern als Symbol: schwarzen Menschen geht es hier nicht besser als den Affen im Zoo. Die Frau als „lustlose Gefangene“, der Affe mit „kaiserlicher Würde“, wie der Fotograf in seinem Vorwort schreibt.


Man könnte noch mehr Beispiele für kritisch konnotierte Einzelbilder oder Sequenzen bringen, aber auch ohne sich in Details zu verlieren wird deutlich, dass Butturini keinesfalls die Diskriminierung von einzelnen Menschen oder bestimmten Bevölkerungsgruppen im Sinn hatte, sondern dass es ihm darum ging, den Blick zu schärfen und auf Ignoranz, Widersprüche, Ungerechtigkeiten und Missstände hinzuweisen. Risse gehen durch die Stadt bzw. die städtische Gesellschaft, wenn nicht schon im Bild selbst zu sehen, dann durch Dunkelkammerverfremdungen und/oder die spannungsgeladene, mal kommentierende, mal kontrastierende Sequenzierung verdeutlicht. Wie das kontroverse Echo auf die Wiederveröffenlichtung zeigt, bleiben die visuellen Mittel, die Butturini einsetzte, trotz ihrer eher geringen Subtilität und trotz seiner deutlich und durchgehend den Schwachen und Ausgegrenzten zugewandten Haltung für eilige Leser und Leserinnen missverständlich. Butturini äußerte sich später deutlich über seine Unzufriedenheit mit seinem früheren Job in Werbung und Design. Seinen Fotobuch-Erstling darf man als eine Art Bindeglied zwischen dem zuvor von ihm verlangten Grad an Lifestyle und Modernität und dem Bestreben interpretieren, einer kritischen Weltsicht zum Ausdruck zu verhelfen. Während Butturini ähnliche Gestaltungselemente auch für spätere Bücher (beginnend 1971 mit Cuba 26 Luglio, nochmals besonders eindrucksvoll zum Thema Londonderry/Nordirland, 1972) einsetzte, ist darin von der expressiven, grauen und körnigen Ästhetik à la London nichts mehr zu sehen; London blieb in dieser Beziehung ein Einzelstück.


Es ist hier nicht Raum und Gelegenheit, das London-Buch in den Kontext ähnlicher, zeitgenössischer Werke zu stellen. Zunächst könnte man Butturinis London mit anderen Städteporträts dieser Zeit in Relation bringen, zum Beispiel mit den London-Büchern von Tony Armstrong-Jones (1959), Frank Habicht (1969) oder Jürgen Seuss (1969). Interessant wäre ein Vergleich mit dem völlig anders konzipierten London-Buch des Tschechen Milon Novotny (1968), eines der Pop Art nicht zugewandten Außenseiters. Man müsste Butturinis London auch mit den großen italienischen Mailand-Porträts von Mario Carrieri (1959), Pirelli/Orsi (1965) und Crocenzi/Birelli (1967/1969) zusammen sehen. Zudem wären noch die direkten oder indirekten Bezüge zu den Arbeiten des damals wichtigsten Städtebuchfotografen herauszuarbeiten, nämlich zu William Klein mit seinen Büchern über New York (1956), Rom (1959), Moskau und Tokyo (1964/65). Wenn man danach suchte, dürften sich Spuren zumindest der Werke von Klein und den Italienern bei Butturini nachweisen lassen. Außerdem wäre noch ein sehr spezielles, aber seinerzeit weit verbreitetes Phänomen zu berücksichtigen, nämlich das Einbeziehen von in der Dunkelkammer verfremdeten Bildern bzw. das Verwenden von Fotografiken und Fotos mit extrem harten Kontrasten.


Butturinis weitere Fotobücher zeigen ihn ganz klar als politisch engagierten Künstler. Nach London folgten Bände u.a. über Kuba, den Nordirland-Konflikt und vor allem über Chile, ein Thema, das nach der Wahl und dem Sturz von Allende 1970 bzw. 1973 im linken Lager hoch aktuell war, was aber hier nicht weiter verfolgt werden kann.



Butturini und die DDR


Hier soll nur noch einer weiteren Spur nachgegangen werden, nämlich Butturinis auffälliger Affinität zur DDR. 1973 war er als Bildreporter zu den 10. Weltfestspielen der Jugend und Studenten gereist, ein Ereignis, dass die Veranstalter immer zu besonderen Anstrengungen anspornte. In Ostberlin war das Festival nach 1951 schon zum zweiten Mal zu Gast. Zu beiden Festivals erschienen in der DDR eine erstaunlich große und vergleichweise aufwändig produzierte Menge an Drucksachen und Büchern, im Vorfeld zur Werbung, währenddessen als Gastgeschenk, danach als Dokumentation. Solche Publikationen erschienen jeweils nicht nur im Land des Veranstalters (oft in mehreren Sprachen), sondern auch in Ländern der Teilnehmer.


Butturini konnte aus seinen Bildern vom 10. Festival eine Publikation machen, die im Werkverzeichnis auf seiner Website genannt wird, die aber laut KVK in keiner deutschen Bibliothek nachgewiesen wird (und mir derzeit leider nicht vorliegt). Als Herausgeber wird der Italienische Kommunistische Jugendverband genannt. 1974 wurde Butturini schließlich zu mindestens einem weiteren Besuch der DDR eingeladen, so wie wenig später der ostdeutsche Fotograf Thomas Billhardt (* 1937) nach Florenz eingeladen wurde, um arbeitend eine Gruppe von Dokumentarfilmern zu begleiten. Von Billhardt erschien 1976 in diesem Zusammenhang je ein Italien-Buch im Ostberliner Verlag Neues Leben (Noch steht der Schiefe Turm… Streifzüge durch die rote Toskana) und, in der Bildauswahl ähnlich, aber völlig anders gestaltet, auf Italienisch im Eigenverlag des Regionalrates von Florenz (Toscana Immagini). Nebenbei: Ein Selbstporträt von Billhardt in einem Spiegel eines Flohmarktstands (Bild 1 im italienischen Buch) erinnert an das raffinierte Selbstporträt Butturnis aus London, das unter Zuhilfenahme eines Rückspiegels eines Fahrzeugs entstand.


Als Ergebnis der Besuche in Ostdeutschland konnte Butturini ein weiteres Fotobuch in Italien herausbringen. Es war dem 25jährigen Bestehen der DDR gewidmet und wurde erst 1975 fertig, auch wenn der Klappentext auf Oktober 1974 datiert ist. Es gibt keine deutsche Version. In diesem vom Fotografen wiederum selbst layouteten Buch kehren vereinzelt Gestaltungsideen wieder, wie er sie so oder ähnlich schon für das London-Buch bzw. dessen Nachfolger eingesetzt hatte: zu Beginn eine Strichgrafik der Flagge (hier ein Detail des Emblems aus Hammer und Zirkel), eine rote, eine Blutlache symbolisierende Farbfläche, die ein Foto des Buchenwald-Denkmals überdeckt und sprechende Gegenüberstellungen wie von einer Gedenktafel an die faschistische Vergangenheit mit einem Kleinkind. Ansonsten herrschen Optimismus und gute Laune vor, Butturini war in Betrieben unterwegs und fotografierte dort Arbeiter und Arbeiterinnen, begleitete Demonstrationen und Festivitäten, war bei kulturellen Aktivitäten dabei („Ein Bühnenbild für Neruda“) und verwendete einzelne Farbbilder, zum Beispiel in Gestalt von Kontaktstreifen von Dias, die er auf der Ostseewoche in Rostock aufgenommen hatte. Das Layout arbeitet mit clusterartigen Anordnungen (ähnlich wie schon in Butturinis erstem Chile-Buch), die einzelnen Bilder sind jeweils mit schwarzen Rahmen umgeben, es gibt ein paar vollflächig schwarze und rote Vakatseiten, um im Fluss des Blätterns bestimmte Trennungen zu markieren. Fast immer sind Menschen zu sehen, Architektur und Landschaft spielen keine Rolle. Dafür bediente Butturini einige der Klischees der Bildpropaganda: eine Jugend, die eine glückliche Zukunft vor sich hat, sichere und attraktive Arbeitsplätze, eine wertvolle Kulturszene, Demonstrationen als Ausdruck des selbstverständlich von oben sanktionierten politischen und gesellschaftlichen Engagements. Das Schlussbild zeigt eine Gruppe untergehakter junger Leute auf einer Vietnam-Demonstration, dem die Farbe Rot vollflächig gegenübergestellt ist. Die DDR erscheint in Butturinis Reportage frisch, jung und erfolgreich. Inwieweit das am Ende abgedruckte lange Interview der Agentur Associated Press mit Erich Honecker diesen Eindruck verstärkte, muss offen bleiben.


1974 erschien in der DDR-Wochenzeitschrift Sonntag (Nr. 29/1974, S. 9) ein aufschlussreiches Interview, das Anna Mudry mit Gian Butterini über seine Arbeit geführt hatte. Er lasse „sich nicht gerne als Fotograf bezeichnen“, wolle „Inhalt und Ziel seiner Arbeit klar definieren und kundtun“ und nenne sich daher „Fotoreporter der Gegenkommunikation“, so wie auch in den Klappentexten seiner Bücher. Gegenüber Cartier-Bressons „Konzeption vom versteckt eingefangenen ,flüchtigen Augenblickʻ “ äußerte er sich skeptisch, weil damit davon ausgegangen werde, dass der Fotograf „außerhalb der Dinge“ stehe, was aber nie der Fall sein könne (siehe London…). Seine Fotobücher würden ihm helfen, sich nicht als Einzelgänger zu fühlen. Er verzichte auf einen Teil seiner Honorare, um damit niedrigere Buchpreise zu ermöglichen. Er sei bislang an politische Brennpunkte gereist, aber auch in Länder, „in denen der Sozialismus aufgebaut wird.“ Diese „ziehen mich deshalb an, weil ich dem italienischen Volk etwas von solchen Prozessen zeigen möchte“, was auch für das Buch über die DDR gelte, für das er einen „progressiven Verleger in Italien gefunden“ habe. „Ich verspreche mir von dem DDR-Buch, daß diejenigen in Italien, die wenig über den sozialistischen deutschen Staat wissen, über ihn mehr erfahren und diejenigen, die für den Sozialismus kämpfen, angespornt werden.“ Das London-Buch wird in diesem Interview nicht genannt, die vier Illustrationsfotos entstammten Cile Venceremos (1973).


Im April 1975, das DDR-Buch war offenbar noch immer „in Vorbereitung“, veröffentlichte das DDR-Monatsblatt Fotografie ein weiteres Interview mit Butturini nebst sieben seiner Fotos, davon je zwei aus dem Nordirland-Buch und aus der Serie über italienische Metallarbeiter und je eines aus den Büchern über London, Kuba und Chile. Der Beitrag bezog sich auf den bereits zitierten älteren Artikel in der Zeitschrift Sonntag und wiederholte einige Passagen daraus. In der Einleitung wird Butturini als Autor von mehreren Bildbänden vorgestellt. Eine vom Kulturbund der DDR organisierte Wanderausstellung mit Motiven aus Chile, Großbritannien, Italien, Kuba und Nordirland sei in Dresden, Magdeburg und Berlin zu sehen gewesen, bei der 6. Berliner Internationalen Fotoausstellung (bifota) 1974 war er mit einem Motiv (Katalog Nr. 257: „Gewalt“, ohne Abbildung) vertreten wie übrigens auch Michael Schmidt aus Westberlin. Zudem habe er in der „internationalen Preisjury“ dieser bifota mitgewirkt. Seinerzeit war Butturini auch als „Fotokorrespondent“ der DDR-Tageszeitung Neues Deutschland tätig. Ein längeres Zitat aus der Fotografie bringt die Weltsicht Butturinis auf den Punkt: „Meine Entscheidung zu fotografieren entspricht dem Wunsch, mich stärker im revolutionären Kampf zu engagieren. Ursprünglich machte ich Industrie- und Architekturdesign, zum Beispiel Entwürfe für Ausstellungspavillons, und ich arbeitete für die Werbung. Damit verdiente ich viel Geld. Doch ich kam nicht zur Ruhe. Ich projektierte Luxusdinge und sah, wie die Menschen in Süditalien in elenden Baracken hausten, wie sich die Arbeiter im Norden auslaugten, wie aus ihnen alle Energie ausgepreßt wurde. Deshalb gab ich vor sieben Jahren meinen Beruf auf, weil ich überzeugt war, mit der Kamera direkter in den politischen antiimperialistischen Kampf meines Landes und auch in der Welt eingreifen zu können. Die Fotografie erschien mir dann als die beste Möglichkeit des Engagements … Bei meinen Reportagen stehe ich nicht außerhalb der Situation … Ich bin daran nicht als Zuschauer, sondern als politisch denkender Mensch beteiligt. Ich lehne den Fotografen ab, der sich hinter seiner Kamera versteckt, der scheinbar ihr die Entscheidung in der Aussage überläßt. Der Fotograf muß sein Gesicht zeigen und bei dem, was er sieht und fotografiert, Partei ergreifen. Letztendlich entscheidet sich jeder für diese oder jene Seite der Barrikade“ (Fotografie, Heft 4/1975, S. 24). Butturini war nach eigener Aussage „aktives“ Mitglied der kommunistischen Partei Italiens (Sonntag, Nr. 29/1974, S. 9).


Die von Butturini auch in seinem Begriff der „Gegenkommunikation“ zum Ausdruck kommende Parteilichkeit ist schon im London-Buch sehr deutlich sicht- und spürbar. Die Aussage von 1975 entspricht im Übrigen ziemlich genau dem Credo der offziellen DDR-Fotografie, wie sie zum Beispiel der Kulturbund über seine Gliederungen zur Steuerung des DDR-Fotoschaffens im Sinne des „Sozialistischen Realismus“ propagierte.


Butturini hatte wenig später noch zwei weitere Gelegenheiten, in der DDR oder über die DDR zu publizieren, nämlich einen wesentlichen Beitrag zu leisten zur Illustration eines Italien-Buches seiner früheren Interviewpartnerin Anna Mudry, das 1978 im Ostberliner Verlag Neues Leben erschien. 1991 legte der Italiener zusammen mit seinem Leipziger Kollegen Ralf Schuhmann (* 1962) nochmals ein Buch über die (Ex-)DDR vor, in dem allerdings von Butturini nur Bilder aus den Jahren 1973 bis 1975 (mit Schwerpunkt auf 1974) enthalten sind, während Schuhmann den Fall der Mauer thematisierte.



Fazit


Martin Parr hat es zugelassen, dass sein prominenter Name für die Neuausgabe des spannenden, zwischen Zeitgeist und Kritik oszillierenden Fotobuchs über London vermarktet wurde. Daran gibt es zunächst nichts zu kritisieren, denn das Original von 1969 gehört zu Recht in den Fotobuchkanon und ist sicherlich das beste in Butturinis Œuvre. Allerdings hatte Butturini sein London auf Messers Schneide konzipiert und arrangiert, ein Wagnis, das er für seine späteren, eindeutiger Partei ergreifenden, aber in gestalterischer und fotografischer Hinsicht zunehmend weniger aufregenden Bücher nicht mehr eingegangen ist. Die Diskussionen, die die Neuausgabe von London auslöste, haben nicht nur etwas mit dem gewandelten Zeitgeist zu tun, sondern dürfen vielleicht auch als ein Indikator für die nachhaltige künstlerische Qualität des Buches gewertet werden, mit dem sich Butturini aus der Welt von Werbung und Design verabschiedete.




Literatur


Bücher von Butturini (Auswahl)


Gian Butturini, London (oder: London by Gian Butturini), Verona: Editrice SAF, 1969 (Produktion im Eigenverlag des Fotografen, Vertrieb SAF, Texte (ital.) Luiciano Mondini, Gian Butturini und Gedicht (engl.) von Allen Ginsberg, Gestaltung Gian Butturini)


Gian Butturini (Texte Luciano Mondini), Cuba 26 Luglio, o. O. [Milano]: Bareggi Editore o. J. [1971]


Gian Butturini, Dall´ Irlanda dopo Londonderry, Milano: Bareggi Editore, o. J. [1972]


Gian Butturini, Cile Venceremos, Milano: Bareggi Editore, o. J. [1973]


Gian Butturini/Mario de Micheli, cile brigada ramona parra, Milano: stampa club, o. J. [1973]


Gian Butturini, Berlino 1973 – il Festival mondiale della gioventù e degli studenti da un reportage di Gian Butturini, [Modena]: Federazione giovanile comunista italiana, 1973


Gian Butturini, RDT – Repubblica Democratice Tedesca per una nuova epoca, Brescia: Editrice Vannini, [1975] (Texte Sergio Segre, Franco Petrone, Associated Press/Erich Honecker, Gestaltung Gian Butturini)


Anna Mudry, Bei den Erben Galileis. Begegnungen zwischen Turin und Palermo, Berlin: Verlag Neues Leben, 1978 (Fotos zu 3/5 von Gian Butturini)


Gian Butturini/Ralf Schuhmann, C´era una vola il muro – Als die Mauer noch stand, Milano: Tranchida Editori, 1991


Gian Butturini, Frauen – Der Blick, die Geschichten, Brescia: Grafo Edizioni Brescia, 1995


Gian Butturini, London (oder: London by Gian Butturini), „Edited by Martin Parr“, Bologna: Damiani Editore, 2017 (Neuausgabe, Texte (alle engl.) Martin Parr, Luiciano Mondini, Gian Butturini und Gedicht von Allen Ginsberg, Gestaltung Gian Butturini)



zu/über Butturini


6. Berliner Internationale Fotoausstellung bifota, Berlin Ausstellungszentrum am Funkturm 5.4.-4. 5.1974, Berlin: Kulturbund der DDR, Zentrale Kommission Fotografie, 1974


Anna Mudry, „Unbeteiligt“, das gibts doch gar nicht. Interview mit Gian Butturini, in: Sonntag, Nr. 29/1974, S. 9


Gian Butturini – „Fotografie als Waffe“, Interview in: Fotografie, Heft 4/1975, S. 24ff.


Gerry Badger/Martin Parr, The Photobook: A History, Volume III, London 2014, S. 154/155


Peter Bialobrzeski, Interview mit Martin Parr: „Naja, wenn man bekannt ist, wird man kritisiert“, in: Photonews, Heft 5/2021, S. 6f.


Moritz Neumüller, „A Stone Thrown at My Head“. London by Gian Butturini. A Receiption History, 1969-2021, in: „I am shocked“ – The Reception of Photobooks, Themenheft von: PhotoResearcher (Wien), Nr. 35/2021, hg. v. Christoph und Markus Schaden, S. 134ff.
www.academia.edu/47744232/_A_Stone_Thrown_at_My_Head_London_by_Gian_Butturini_A_Reception_History_1969_2021?source=swp_share


Hansgert Lambers, Aufruhr um ein Buch – Das London der 1960er-Jahre von Gian Butturini, Kasseler Fotobuchblog, 15. Mai 2021, www.kasselerfotobuchblog.de/aufruhr-um-ein-buch



zum Vergleich: Städtebücher der Zeit


William Klein, Life is good & good for you in New York, Paris: Editions du Seuil, 1956 (Albums Petite Planete)


Tony Armstrong-Jones, London, New York: Dutton, 1958


Mario Carrieri, Milano, Italia, Milano: C. M. Lerici Editore, 1959


William Klein, Roma, London: Vista Books, 1959 (englische Ausgabe, im Original französisch/Albums Petite Planete)


William Klein, Tokio, Vorwort Richard Friedenthal, Hamburg: Die Zeit Bücher, Nannen-Verlag, 1965 (Originalausgabe: Tokyo, Preface Maurice Pinguet, Crown Publishers New York 1964)


William Klein, Moskau, Vorwort Helmut Heißenbüttel, Hamburg: Die Zeit Bücher, Nannen-Verlag, 1965 (Originalausgabe: Moscow, Preface Harrison E. Salisbury, Crown Publishers New York 1964)


Giulia Pirelli/Carlo Orsi, Milano, Milano: Bruno Alfieri Editore, 1965


Luigi Crocenzi/Diego Birelli, Milano – Le città che sono l`Italia, (Milano): Electa Editrice, 1967 (viersprachige Ausgabe: 1969)


Milon Novotny, Londyn, Praha: Mlada Fronta, 1968 (Neuausgabe mit engl. Text: Londyn 60. let / Sixties London, Praha: Kant, 2014)


Jürgen Seuss u.a., London scene, Frankfurt: Büchergilde Gutenberg, 1969 (= Originalausgabe), Verlagsausgabe: London pop gesehen, Hannover: Fackelträger, 1969


Frank Habicht, Young London, London: George G. Harrap & Co, 1969


06.06.2021