www.fotokritik.de

Texte zur zeitgenössischen Fotografie und digitalen Bildkunst
click here for english translation by google

Der Leser hat das Bild

von Joachim Schmid


Über die Frage, ob neue Techniken erfunden werden, um vorhandene Bedürfnisse zu befriedigen, oder ob neue Techniken neue Anwendungsmöglichkeiten und in der Folge neue Bedürfnisse nach sich ziehen, lässt sich trefflich streiten. Der an dieser Frage sich entzündende Streit erinnert an den unlösbaren Henne-oder-Ei-Disput, doch auch ohne dass die Sache entschieden wäre, lohnt am konkreten Beispiel immer wieder der Versuch, sich zu vergegenwärtigen, wie das Neue in die Welt kommt.


Für eine Kulturtechnik, die ohne die Erfindungen und Entwicklungen von Ingenieuren nicht existierte (und die damit vom technisch-industriellen System so abhängig ist wie ein Kokser vom Coca-Bauern), ist es entscheidend, ob die von der Industrie zur Verfügung gestellten Apparate und Materialien so entwickelt und produziert werden, wie die Anwender das wünschen. Wir wissen, dass das nur für einen kleinen Teil des Spektrums zutrifft, während ein großer Teil der erhältlichen Produkte ihre Existenz eher merkantilen als handwerklichen oder konzeptionellen Erwägungen verdankt. Wir wissen allerdings auch, daß technische Geräte, wenn sie erst einmal erhältlich sind, für Anwendungen genutzt werden, die ihre Hersteller nie im Sinn hatten.


Im Reich der technischen Bilder ist die wohl weitreichendste Entwicklung der Neuzeit die Kombination von Digitalkamera und Mobiltelefon. Zwei Szenarien, wie der Entstehungsprozess abgelaufen sein könnte:


Szenario A - Ansprache des Vorstandsvorsitzenden eines japanischen Elektronikkonzerns an die leitenden Ingenieure: „Unsere Marketingabteilung hat festgestellt, daß ein rapide wachsender Teil der Menschheit ein großes Bedürfnis verspürt, sein schändliches Treiben in jeder Situation im Bild festzuhalten und umgehend an Gleichgesinnte zu übermitteln. Zudem scheinen die Menschen gerne als Hobby-Reporter tätig werden zu wollen, die den alten und neuen Medien möglichst in Echtzeit ihre Erlebnisse und Erkenntnisse zukommen lassen würden, um so dem traditionellen Journalismus in einer Art Revolution kräftig in den Hintern zu treten. Würden die ehrenwerten Herren Ingenieure wohl ein Gerät entwickeln, das diesen Bedürfnissen entgegenkommt? Und zwar ein bißchen flott, wenn ich bitten darf, da entsteht ein neues Marktsegment von ungeahnten Ausmaßen und ich möchte nicht, daß uns die Konkurrenz zuvorkommt! Haben wir uns verstanden?“


Szenario B - wieder der Vorstandvorsitzende: „Leute, wir müssen uns weiterentwickeln, Ihr wisst, die Konkurrenz schläft nicht. Wir haben im letzten Jahr achtzehn Millionen Mobiltelefone verkauft. Unsere Vertriebsabteilung stellt fest, daß wir von den neuen Modellen nicht viel mehr in den Markt drücken können. Lasst Euch etwas einfallen, damit diejenigen, die schon ein Telefon haben, noch eins kaufen, das viel mehr leistet als alles, was wir bisher kennen. Wenn Ihr bis nächsten Monat mit einem überzeugenden Konzept kommt, gibt‘s die größte Karaoke-Party aller Zeiten, Reiswein und nackte Weiber bis zum Abwinken. Wir haben uns verstanden, ja?“ Die ehrenwerten Herren Ingenieure machen sich an die Arbeit, sie verwerfen die Idee, einen Elektrorasierer oder ein Schweizer Offiziermesser ins Mobiltelefon zu integrieren, und sie scheitern beim Versuch, das Telefon statt dessen mit einem praktischen Reisebügeleisen zu verschmelzen. Als durchschlagender Erfolg erweist sich jedoch der Vorschlag, eine Digitalkamera ins Telefon einzubauen, so daß die Kunden mit ein und demselben Gerät Fotos oder gar Videos aufnehmen und diese sofort versenden können.


Wie wird‘s gewesen sein? Wurden Kameras in Telefone eingebaut, weil die Menschheit danach hungerte? Ich tendiere zu Szenario B, auch wenn es im Detail nicht völlig mit dem wirklichen Geschehen übereinstimmen mag. Doch letztlich ist nur von peripherem Interesse, ob japanische Ingenieure mal wieder etwas erfanden, um mit der Novität das Geschäft zu beleben, oder ob ihnen von ihren Marktforschern mitgeteilt wurde, daß die Menschheit ein dringendes Bedürfnis verspüre, immer und überall mit dem Telefon Bilder zu machen. Die Technik ist da und ihr Vorhandensein hat Konsequenzen. Die Menschen machen immer und überall Bilder, wobei sich die Eigenheiten der neuen technischen Möglichkeiten auf die Herstellung wie auf die Zirkulation der Bilder auswirken.


Die Situation ist vergleichbar mit der, in der handliche Kameras entstanden und aufgrund ihrer evidenten Vorzüge schnell populär wurden. Dabei wurde die ursprünglich als nebensächliches Hilfsmittel der Filmindustrie entwickelte Kleinbildkamera zum Schlüssel eines ganz anderen Gebiets, weil kreative Anwender ihr Potential erkannten und nutzten – moderne Foto-Reportage ist also pikanterweise so etwas wie ein Abfallprodukt der Spielfilm-Produktion. Die Idee, dass Arbeiter-Reporter die sowjetische Presse mit Bildern aus dem wirklichen Leben beliefern könnten, wäre ohne diese Technik allenfalls als Phantasterei in die Fußnoten der Pressegeschichte eingegangen. (Ihr Scheitern ist eine andere Geschichte.)


Von der heutigen Verbreitung der neuen Technik – oder im Jargon der Marketingleute: von der Sättigung des Marktes – hätten die Phantasten und Utopisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wohl kaum zu träumen gewagt. Daß die neue Technik nicht nur zum Fotografieren geeignet ist, sondern auch erlaubt, Fotos umgehend zu versenden und in eine weltumspannende, dezentrale Vertriebsstruktur einzuspeisen, eröffnet Anwendungsmöglichkeiten, die selbst die kühnsten Träume des vergangenen Jahrhunderts übertreffen. Es scheint da nur eine kleine Diskrepanz zwischen den zum Träumen einladenden Möglichkeiten und der gegenwärtigen Praxis zu geben.


Betrachten wir zunächst die erwähnte Presse, die sich in ihrem kaum zu stillenden Hunger nach Bildern täglich Unmengen von Fotografien unterschiedlicher Provenienz einverleibt. Vor wenigen Jahren noch (wenigen Jahrzehnten meinetwegen) wäre kaum denkbar gewesen, dass irgendeine Bildredaktion eines Mainstream-Mediums ein Foto zur Veröffentlichung auswählte, das nicht von einem ordentlich ausgebildeten, professionell arbeitenden Fotografen stammt. Mittlerweile ist es fast schon üblich, aus dem Fernsehen oder aus Überwachungskameras abgegriffene Bilder zu veröffentlichen oder Fotos von Laien, die mit Mobiltelefonen und Digitalkameras minderer Qualität zur rechten Zeit am rechten Ort waren. Die Wahrscheinlichkeit, daß irgend jemand irgendwo mit einer Kamera anwesend ist, ist beim erreichten Grad der Marktsättigung sehr hoch.


Als Anfang Juli vergangenen Jahres in London vier Bomben explodierten, hatten die von Berufs wegen immer bestens informierten Redakteure von Zeitung, Funk und Fernsehen noch keine gesicherte Information über das Geschehen, als die ersten von Augenzeugen aufgenommenen Bilder bereits via Mobiltelefon aus dem Röhren der U-Bahn verschickt und in Blogs veröffentlicht worden waren. Die Beschleunigung der Berichterstattung ist dabei nur das oberflächliche Merkmal eines grundlegenden Wandels des Journalismus. Auf dem Spiel steht das Berichterstattungs-Monopol der Professionellen. Mittlerweile wurde in England die erste Bildagentur gegründet, die sich ausschließlich mit der Vermarktung vermarktungsfähiger Fotos von Laien beschäftigt – „Snap ... Send ... Sell“ (www.scoopt.com).


Das Äquivalent des „citizen journalist“ der englischen Presse ist in Deutschland der „Leser-Reporter“ der Bild-Zeitung. Deren Redaktion war schlau genug, ihre mit der neuen Technik ausgestatteten Leser frühzeitig als Material-Lieferanten einzuspannen. Ein für Laien äußerst lukrativ wirkendes Honorar für jede Veröffentlichung sorgt für unablässigen Nachschub, und der bekannte Kontext sorgt in Tateinheit mit den redaktionellen Richtlinien für Inhalt wie Tendenz. So beschränkt sich die Bild-Produktion der Laien – soweit wir sie zu sehen bekommen – auf das, was wir von Bild erwarten können: Prominenz, Skurrilität, Denunziation und nacktes Fleisch – ein Musterbeispiel erfolgreicher Kanalisierung (Beispiele finden sich im Foto-Blog).


Warum andere Redaktionen ihre Leser nicht zu ähnlicher Aktivität ermuntern, ist eines der vielen Rätsel der Gegenwart. Was macht Deutschlands einzige, erst vor gut einem Vierteljahrhundert gegründete linksradikale Tageszeitung mit der neuen Technik? Sie ignoriert sie. Das ist die Zeitung, für die die Berichterstattung der „Betroffenen“ aus eigener Perspektive eines der zentralen redaktionellen Prinzipien war. Wann richtet die Initiative „Bürger beobachten die Polizei“ ein Blog ein, in dem all die Rodney-King-Videos und ähnliche Dokumente gespeichert sind? Die Technik ist vorhanden, sie steht nahezu kostenlos zur Verfügung, doch ihr Potential wird kaum genutzt. Im Moment ist eine der wenigen nennenswerten Alternativen zum unappetitlichen Wirken der Bild-Zeitung noch der kaum weniger fragwürdige Aufruf zur Jagd auf deren Chefredakteur („Fotografiert Kai Diekmann!“ – www.bildblog.de/?p=1725).


Ansonsten wird die neue Technik überwiegend privat genutzt, und ihre private Nutzung wird bereits auf der Ebene harmloser Ratgeber-Büchlein abgearbeitet (s. Foto-Blog). Wir wissen selbstverständlich nicht, ob solche Anleitung zur gediegenen Langeweile fruchtet, doch steht zu vermuten, daß allenfalls ein Teil der mit der neuen Technik ausgestatteten Zeitgenossen diese so nutzt, als ob es ganz die alte sei. Ganz ohne Ratgeber entstehen mit der neuen Technik Bilder in und aus Situationen, die nicht primär aufs Bild angelegt sind und doch als Bild sich erst so recht entfalten. Öffentlich werden diese Bilder nur sporadisch, wenn etwa pubertierende Horden beim „happy slapping“ etwas zu weit gehen, wenn dienstbeflissene Folterknechte in Abu Ghraib oder deutsche Soldaten mit Hang zum etwas derberen Scherz in Afghanistan zur Kamera greifen und die Bilder ihres schändlichen Treibens voller Stolz und Blödheit umgehend an die Liebsten nach Hause senden. Von solchen Dingen erfahren wir heute – und wir erfahren es ziemlich schnell – auf Grund der neuen Technik, und das ist auch gut so.


Und die Kunst? Wie nutzen heutige Fotokünstler die neue Technik? Das sind doch die Leute, die das Potential am ehesten erkennen und experimentell ausloten müssten. Was tun sie statt dessen? Sie lassen sich von einem der Hersteller von Mobiltelefonen als Produkt-Tester anheuern, um zu demonstrieren, daß man mit der neuen Technik genauso gute Fotos machen kann wie mit der alten. Da wird einem der oben erwähnte Ratgeber fast schon wieder sympathisch.

16.11.2006


Klicken Sie hier für den Bild-Blog zum Artikel

Druckversion

Schlagworte: Bild-Zeitung, citizen journalist, Leser-Reporter