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Blog zur zeitgenössischen Fotografie
und digitalen Bildkunst
 

  Nachdenken über Fotografie: Gespräch mit Elmar Mauch über "Foto-Bild-Forschung" 2. Folge
von Thomas Leuner

Der Fotograf, Künstler und Hochschuldozent Elmar Mauch beschäftigt sich seit langem mit der Thematik Bildforschung und Denken in Bildern. Er hat 2011 das Institut für künstlerische Bildforschung gegründet, dessen Ziel es ist, das informelle Wissen über die Bildwirkung von Fotografien aufzuarbeiten und sichtbar zu machen. 


Der erste Teil des Gesprächs aus dem Jahre 2011, "Dramaturgie der Bilder, Bildrhetorik, Bildfolgewahrnehmung, Bildwahrnehmung im Fotobuch", ist zu finden unter : www.fotokritik.de/_artikel_133_1.html


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Für dich bedeutet Bildforschung nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Bildfolge, den assoziativ entstehenden neuen Inhalten durch Bildreihen und Montagen, wie wir das im 1. Teil des Gesprächs diskutiert hatten, sondern auch das "Sammeln" von Bilder. Gesammelt werden Bilder schon immer, wo liegt dein Forschungsinteresse?


Elmar Mauch
Man kann mein Forschungsinteresse mit drei Merkmalen beschreiben: Sammeln ist Punkt eins. Analyse bzw. das Befragen der Bilder ist Punkt zwei. Ein weiterer Punkt ist dann der Akt des Sichtbarmachens, d.h. die Konstruktion von Sinnzusammenhängen.
Ausgangspunkt für mein Sammeln waren erste Familiennachlässe, die ich auf Flohmärkten und in Antiquariaten entdeckt hatte. Dass diese bildlichen Nachlässe der Existenz von Menschen zum Verkauf standen, hat mich anfangs zutiefst irritiert. Denn bei uns zu Hause war die Bilderkiste ein gehüteter Familienschatz, der mich sehr fasziniert hat. Darin befanden sich Fotografien aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, die sich über die Jahre bei meinen Eltern angesammelt hatten. Zu einzelnen Personen aus dem Verwandtenkreis konnte ich auf Nachfrage Geschichten oder Hintergründe erfahren. Diese Fotos dienten als Ausgangspunkt für Geschichten und Abschweifungen. Ein Album mit ergänzenden Erläuterungen gab es bei uns nicht. Ich war also darauf angewiesen, die Leerstellen zwischen den Bildern in meiner Phantasie zu ergänzen. In dieser Bilderkiste waren Fotos von Verstorbenen, inzwischen gealterten Personen und seit der Aufnahme vollkommen veränderter Orte zu finden. Es war zum Staunen und Nachdenken. Dieses Übermitteln von Fragmenten aus vergangenen Zeiten hat mich als Kind fasziniert, und tut es noch heute.
Es gab also den Moment, an dem ich feststellte, dass, aus welchen Gründen auch immer, sich Leute von ihren Familienbildern trennen. Dieser verwaisten Bilder musste ich mich annehmen. Ein Eckpunkt meines Engagements ist das Bewahren der vom Untergang bedrohten Bildkultur der Alltagsfotos und Knipserbilder. Seit Jahren versuche ich alles, was mir von diesen visuellen Zeugnissen gelebten Lebens bewahrenswert erscheint, zu retten. Daraus ist inzwischen ein sehr umfangreiches Archiv aller Genres der Fotografie entstanden. Entgegen der Strategie der Museen sammle ich nicht nach dem Autorenprinzip. Die Herkunft oder Autorenschaft der Fotografien ist für mich nicht wichtig. Es sind eher Momente, Konstellationen und Bildphänomene, die mich interessieren.


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Bevor wir uns mit den von dir vorgeschlagenen Aspekten des Sammelns, des Sichtbarmachens und der Konstruktion von Sinnzusammenhängen beschäftigen, sollten wir vielleicht einen kurzen Blick auf die aktuelle Diskussion werfen. Warum haben „gefundene Bilder“ im aktuellen Kontext eine bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit erlangt? Die Recontre Arles Photographie 2011 hatte diesem Thema höchste Priorität eingeräumt. „From here on“ hieß die von Clément Chéroux, Joan Fontcuberta, Erik Kessels, Martin Parr und Joachim Schmid kuratierte Ausstellung, die mich mit den Schlagworten “we all recycle, clip and cut, remix and upload“ an die Programmatik der Piratenpartei erinnert.


Elmar Mauch
Im Moment scheint dieses Thema in der Luft zu liegen. Wie ja der Ausstellungstitel, verkündet hat sich unser Umgang mit medialen Bildern grundlegend verändert. Vor allem im Netz sind für jeden Fotos schnell und direkt verfügbar und mit den digitalen Werkzeugen kann man diesen Bildern zu Leibe rücken. Ich denke, dem trägt diese Ausstellung Rechnung.


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Es findet derzeit ein tiefgreifender Wandel über Begriffe wie Urheber, Autor, Umgang mit vorgefundenen Kunstwerken statt.
Um das noch einmal genauer zu beleuchten, möchte ich aus der Sichtweise eines einfachen Fotografen fragen: Er hat ein Foto mit der Kamera geknipst, also ein Bild geschaffen. Auf der anderen Seite steht ein möglicher Bildverwender, der dieses Bild als Arbeitsgrundlage nutzt, um es neu zu interpretieren.
Das wäre das traditionelle dualistische Modell des Komponisten und des Dirigenten, der Komponist schafft Neues, der Dirigent interpretiert das Geschaffene. Also: A-Kunst und B-Kunst. Offensichtlich verwischen sich nun diese Grenzen. Der Musiker, der Theaterregisseur, der DJ, der Bildverwender usw., alle möchten Autoren werden. Nun, warum schaffen sie keine eigenen Werke, oder: Warum fotografierst du Bilder, die dich interessieren, nicht selbst?



Elmar Mauch
Also erstens schaffen alle von dir aufgeführten Personen wie z.B. der Theaterregisseur sehr wohl Werke, indem sie Material neu interpretieren. Gerade in Zeiten, wo an jeder Ecke von Nachhaltigkeit gesprochen wird, ist dieses Zurückgreifen auf Vorhandenes, ein Akt, der sich unserer Wegwerfkultur in den Weg stellt. Gerade bei meinen Arbeiten versuche ich ja auch permanent, mit den weggeworfenen, kontextlosen Fotos etwas sichtbar zu machen, was nicht an deren Oberfläche liegt und erst noch freigelegt werden muss.
Da deine Frage nach dem “nicht mehr selber fotografieren” eine sehr grundlegende ist, versuche ich, dieses Phänomen in einem foto- bzw. kulturhistorischen Rundumschlag zu erleutern:
Punkt 1: Seit inzwischen 170 Jahren gibt es Fotografen, die die Welt und ihre Zusammenhänge in Bilder zu übersetzen versuchen. Das hat über diese vielen Jahre eine Unmenge von Bildern ergeben, die in Archiven und Museen verwahrt werden, in Familienzusammenhängen kursieren, oder inzwischen auch auf Flohmärkten auftauchen. Und seit etwa 20 Jahren hat sich das Ganze potenziert durch die Unmenge an verfügbaren Bildern im Internet. Als mit Bildern arbeitender Mensch kann man irgendwann auf die Idee kommen, ob es da noch eigener Hinzufügungen bedarf. Oder, um es mit Karl Valentin zu sagen: “ Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen”.
Punkt 2: Jetzt kommt die Eroberung der Fotografie durch die bildende Kunst ins Spiel. Diese begann Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Die Künstler eroberten sich dieses Feld von einer anderen Seite her. Das authentische Abbild der Autorenfotografie war ihnen nicht wichtig. Es ging eher um Prozesse, um die Eroberung eines Mediums, das man zum Ausdruck seiner Ideen einsetzen konnte. Für John Baldessari und Richard Prince war es z.B. nicht wichtig, selber zu fotografieren. Die Bilder, mit denen sie arbeiten wollten, gab es schon. Prince eignete sich Bilder aus der Marlborowerbung an, d.h. er fotografierte bestehende Bildvorlagen ab, beschnitt sie ihres ursprünglichen (Werbe-ontextes und erklärte sie zur Kunst. Dies war natürlich ein Affront für die Fotografenwelt. Und Baldessari benutzte Standbilder aus Filmen, formte sie um, reduzierte sie oder reicherte sie durch Eingriffe so an, dass sich neue Bildgeschichten und Wahrnehmungsebenen ergaben.
Diese künstlerischen Positionen haben mich während meines Studiums fasziniert, aber auch verunsichert. Verunsichert, weil es ein Gegenmodell zu dem war, was ich tat. Fasziniert deshalb, weil ich spürte, dass sich dadurch eine andere Ebene des Bildes erreichen lässt, ein Grad von Komplexität, der mit dem klassischen Foto nicht erreichbar ist. Dass dieses Aneignen für Verwunderung, Unverständnis und Ablehnung bei Fotografen führte, kann ich deshalb gut verstehen. Denn dies war ein vieldiskutierter Frontalangriff auf den Begriff des Autors. Parallel zu diesen Phänomenen in der Kunst wurde damals in der Literaturtheorie der Tod des Autors propagiert. Dazu ist es nicht gekommen. Jedoch hat sich neben den klassischen Autorenfotografen eine andere Art von Autor gesetzt. Dieser agiert wie selbstverständlich mit Fremdmaterial, formt dieses um und erweitert es. Für mich ein logischer, zeitgenössischer Umgang mit Bild und Fotografie.


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Die Faszination für vorgefundene Bilder ist gut nachvollziehbar. Es ist aber erstaunlich, warum diese Bildwelt erst in den letzten Jahrzehnten als eigenständige Welt aufgetaucht ist und vorher von Künstlern, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum beachtet wurde.
Hat das etwas mit der neuen Technik der Digitalisierung von Bildern zu tun? Dass damit in der Öffentlichkeit deutlich geworden ist, jede Fotografie ist „bearbeitet“, und ist als Folge dieser Einsicht die Akzeptanz gewachsen, künstlerische Arbeit mit vorgefundenen Bildmaterialien als eigenständige künstlerische Arbeit zu werten?


Elmar Mauch
Dass dieses Feld von Künstlern keine Beachtung gefunden hat bzw. beim Publikum keine Beachtung gefunden hätte, kann ich so nicht bestätigen. Neben den schon genannten Richard Prince und John Baldessari, ist da vor allem Hans-Peter Feldmann zu nennen. Er verwendete Anfang der 70er Jahre Bildmaterial in Form von Postkarten, Plakaten, Illustriertenausschnitten und auch eigene Fotos und verarbeitete sie in verschiedenen Büchern. Aber auch Christian Boltanskis Werk des Erinnerns und der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, fußt auf gefundenen und gesuchten Fotografien. Jetzt könnte man noch Andy Warhol dazunehmen, und spätestens jetzt müsste klar sein, dass dieses Thema durchaus eine Position in der Kunst seit den 70er Jahren darstellt. Den Anfangspunkt dieser Ideenkunst sehe ich bei Marcel Duchamp. Er hat durch die Aneignung, bzw. Veränderung des Abbildes der Mona Lisa (mit Schnurrbart) einen Startpunkt dieser Entwicklung gesetzt.
Diese ganzen Vorläufer bilden die Basis, auf der späteres Denken über die Position des Umgangs mit Fremdmaterial aufbaut. Auch für mich waren diese künstlerischen Positionen als Reibungspunkte wichtig. Meine erste Arbeit, bei der ich Fremdmaterial integrierte, entstand 1988, also noch während meines Fotografiestudiums. Feldmann und die Anderen gaben mir die Legitimation, diesen Schritt zu tun.


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Die von dir gewählten Begriffe des „Sichtbarmachens“ und „der Konstruktion von Sinnzusammenhängen“, bezeichnet man die als „Appropriation Art“, „Aneignungs-Kunst“? Und was ist damit gemeint?


Elmar Mauch
Das „Sichtbarmachen“ und das „Konstruieren von Sinnzusammenhängen“ fasst alle Handlungsschritte zusammen, die notwendig sind, um anonymes, unbedeutend gewordenes fotografisches Material so umzuformen, dass es neue Kontexte und neue Bedeutung erhält und dann im Verbund mit anderen Bildern eine von mir intendierte Wirkung entfalten kann. Diese Übersetzungsarbeit würde ich als künstlerischen Akt, bzw. als eine Art von „Beseelung“ bezeichnen.
Mit „Appropriation Art“ hat das meiner Meinung nach erst mal wenig zu tun. Es gibt wohl denselben Ausgangspunkt, d.h. man arbeitet mit vorgefundenem ästhetischem Material. Die Zielsetzung unterscheidet sich aber grundlegend. „Appropriation Art“, auch „Aneignungskunst“ genannt, ist ein Gattungsbegriff, der für eine Form von Bildpolitik und deren ausführende Bildpraxis steht. Die Vertreter dieser Form von Konzeptkunst versuch(t)en durch gezielte bildnerische Reproduktionen von bestehenden fotografischen Werken, durch deren Aneignung und damit verbundener Irritationen einen theoretischen Diskurs über Status und Repräsentation von Bildern auszulösen. Mich selber hat diese verkopfte Position immer nur am Rande interessiert, da mich vor allem der ästhetisch-sinnliche Umgang mit Fotografie interessiert.


fotokritik
Folgen wir weiter deinem Arbeitskonzept: was heißt „beseelen“? Was tust du konkret mit den gefundenen Bildern. Wie ist das handwerkliche Vorgehen, wie werden Inhalte generiert? Also: wie geht die Umformung vor sich?


Elmar Mauch
Die absolut wichtigste Grundvoraussetzung für Entdeckungen und Erkenntnisse sind ein wacher, neugieriger Blick und ein geschärftes Bewusstsein, gepaart mit einem breiten Wissen. Nur so kann ich das im Material verborgene Potential aufspüren und einordnen. Wichtiges technisches Hilfsmittel beim ersten Sichtungsvorgang ist erst mal eine gute Lupe, um in der Vergrößerung Details und Verborgenes entdecken zu können. Um das Material verfügbar zu bekommen, kommt dann der Scanner ins Spiel. Die digitalisierten Fotos werden nun nach Themen und Untergruppen sortiert. Erst jetzt kommen Lupe und Schere in ihrer digitalen Form zum Einsatz, dabei werden Ausschnitte festgelegt und Tonwerte verblasster Bilder korrigiert. Alle bisherigen Schritte dienen dazu, einen Überblick über das Material zu bekommen und Potentiale besser erkennen zu können.
Nun kommt die vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Material. Obwohl es kein Rezept für dieses inhaltliche Vorgehen gibt und sich vieles im nichtsprachlichen Bereich abspielt, will ich jetzt doch mal eine theoretische Annäherung versuchen. Als Hilfsmittel soll mir Roland Barthes Theorie von „Studium“ und „Punctum“ dienen, die er in seinem Buch „Die helle Kammer“ beschreibt. Ein Beispiel: Nehmen wir exemplarisch ein 100 Jahre altes Foto des Kölner Domplatzes mit Menschen in der damaligen Kleidung. Ausgehend von dieser Abbildung kann ich über Veränderung von Kleidung, Verkehrssituation etc. nachdenken. Diese sachliche Betrachtungs- und Erkenntnisweise bezeichnet Barthes mit dem Begriff „Studium.“ Wenn aber unabhängig von historischen Gegebenheiten eine wie auch immer geartete Faszination von einem Foto ausgeht, es ein Detail im Bild gibt, das einen beschäftigt, das fesselt, ohne wirklich greifbar zu sein, dann nennt Barthes dieses Phänomen das „Punctum“. Und dieses Punktum ist das, was auch mich fasziniert.
Wenn man mein Vorgehen also unbedingt in ein Schema pressen will, könnte man eine meiner Vorgehensweisen vereinfacht so beschreiben, dass ich nach dem „Punctum“ und dem „Studium“ in den Bildern suche. Die reinen Studiumbilder werden von den Punctumbildern getrennt. Das Bild vom Kölner Domplatz würde jetzt z.B. in meinen Ordner „konkrete Orte“ kommen. Es ist ein bewahrenswertes Archivbild, wird als solches behandelt, kommt aber im weiteren Schaffensprozess eher nicht mehr zum Einsatz.
Für meine thematischen und inhaltlichen Projekte interessieren mich in erster Linie Bilder mit visuellen Spannungsmomenten, in denen ungeklärte Konstellationen vorherrschen und die auch deshalb eine unterschwellige Wirkung besitzen (Punctumbilder). Das visuelle Potential dieser Punctumbilder versuche ich durch Eingriffe, z.B. durch die Veränderung von Ausschnitten oder durch die gezielte Konfrontation mit anderen Bildern freizulegen, zu beeinflussen und für meine Bildarbeiten nutzbar zu machen.


fotokritik
Wenn ich dich richtig verstehe, gehst du wie ein Insektenforscher vor - mit großer Lupe sezierst du die Bilder und analysierst Ebenen und Bildfragmente, die auf den ersten Blick so nicht zu erkennen sind. Was dich interessiert, wird digitalisiert, extrahiert und mit anderen so geschaffenen Bildern zu einer Bildfolge montiert. Was Montage bedeutet, hatten wir schon im ersten Teil unseres Gespräches geklärt.


Elmar Mauch
Ja wenn es denn so einfach wäre!
Sicher kann man Vergleiche zu einem Insektenforscher anstellen, der ähnliche Dinge derselben Spezies zusammenbringt, erforscht und seine wissenschaftliche Schlüsse daraus zieht. Die Materie des fotografischen Bildes ist aber eine sehr viel komplexere! Ich kann mich ihr als Theoretiker oder Praktiker, als Fotograf, als Künstler, Wissenschaftler und Bildanwender annähern. Jede dieser Rollen bringt eine andere Sehweise und eine andere Perspektive mit sich. Aus diesem multiperspektivischen Blick heraus gehe ich meine Bildforschung an. Und anders als beim Insektenforscher ist meine Arbeit mit der Gewinnung von Erkenntnissen nicht an ihrem Ende angelangt. Denn letztendlich geht es mir um Umsetzung und Anwendung dieser Erkenntnisse und um den Kommunikationsprozess mit dem zukünftigen Betrachter.


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Hinter deinem Vorgehen steht unausgesprochen eine Theorie über das fotografische Bild, das diesem eine große Bedeutung als autonomes Bild beimisst. Man kann nur etwas erforschen, wenn es sich um ein komplexes Gebilde handelt, das auch erforschbar ist. Also muss jedes fotografische Bild ein komplexes Gebilde aus visuellen Informationen sein.
In der landläufigen Auffassung ist das Foto dagegen kontextabhängig und für sich selber gesehen ohne konkrete Aussage. Bestenfalls ist es noch einer Bildbeschreibung als Gesamtbild zugänglich. Für eine Bildforschung, wie du sie bei deinen künstlerischen Arbeiten betreibst, ist da wenig Raum.


Elmar Mauch
Meine Bildforschungsarbeiten basieren auf der Erkenntnis, dass fotografische Bilder komplexe Gebilde aus visuellen Informationen sind, denen oft ein sprachlich nicht zu fassendes Potential innewohnt und die zusätzlich auf viele Arten kontextabhängig sind.
Wie du siehst, ergibt sich aus der Zusammenführung der von dir getrennt aufgeführten Theorien, eine Beschreibung meiner Art des Arbeitens. Das visuelle Potential ist für mich Ausgangspunkt, aber erst mit der Schaffung neuer Kontexte entstehen andere Zugangsmöglichkeiten zu den Bildern. Die Bilder sind aus ihrer Vereinzelung gelöst, werden neu lesbar und schaffen neue Bild- und Denkräume.
Aus meiner Biografie heraus habe ich gelernt, nicht einer Deutungsart zu folgen, sondern aus den unterschiedlichen mehr oder weniger klugen Theorien ein für mich stimmiges Gesamttheorem zu entwickeln. Und daran bin ich permanent zugange. Ob meine Art der Bildforschung Raum und Akzeptanz finden wird, wird sich zeigen.



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Diedrich Diederichsen hat in seiner Essaysammlung „Eigenblutdoping“ (2008) beschrieben, dass künstlerische Erfahrungen über Bilder von der Kunst und Medientheorie kaum rezipiert werden. Es existieren zwei parallele Welten. Auf der einen Seite pflegen die Künstler unter sich, besonders in den Lehrgesprächen zwischen Lehrenden und Lernenden an den Hochschulen, eigene informelle Theorien über Bilder und das Bildermachen. Die intellektuelle Theorie und die literarische Mediendebatte umkreisen einen anderen Kosmos, sie nehmen das fotografische Bild als Anlass für gedankliche, gesellschaftliche Diskurse.
Dabei ist auffällig, dass informelle Theorien der Künstler über Bilder und das Bildermachen so gut wie nicht in der Öffentlichkeit erscheinen. Das hat sicherlich unterschiedliche Gründe, eben auch, wie du selbst schreibst, dass künstlerische Arbeit schwer beschreibbar ist.
Verdienstvollerweise hast du über deine “Bildforschung“ öffentlich referiert. Wie war das Echo? Konntest du verständlich machen, was zum Beispiel der von dir verwendete Begriff „beseelen“ bedeutet?


Elmar Mauch
Zu Diedrich Diederichsens Buch kann ich gar nichts sagen, denn ich kenne es nicht. Zu Texten von Diederichsen habe ich so gar keinen Zugang. Das ist mir alles zu spracharistokratisch und zu elfenbeinturmartig. Sein Denken und seine Fragestellungen sind nicht meine Baustelle.
Natürlich sind meine Fragestellungen auch nicht jedermanns Sache. Jedoch habe ich bei meinen Vorträgen die Gelegenheit, mit visuellem Material in mein Denken und meinen Umgang mit Bildern einzuführen. Und das ist durchaus erfolgreich. Denn das Publikum merkt, dass ich den Diskurs liebe. Bei der Vorstellung meiner Überlegungen zu einer praktischen Bildforschung, die ich anhand von künstlerischen Arbeiten in Form von Diptychen, Montagen, Animationen und Sequenzen darlege, erschließt sich auch so ein Begriff wie „beseelen.“ Aus den Rückmeldungen der Zuhörer konnte ich oft erfahren, dass ich das Denken und das Bewusstsein über Bilder bei manchen grundlegend erweitert habe.


fotokritik
Die von dir beschriebenen Eingriffe in vorgefundene Bilder können als minimalistisch beschrieben werden. Du beschränkst dich auf Möglichkeiten, die von der Bearbeitung analoger Fotografie her bekannt sind: Ausschnitt wählen, Tonwerte angleichen usw. Vom Technischen her gesehen ist deine einzige Referenz an das digitale Zeitalter das Einscannen der Bilder und die digitale Verarbeitung in einem virtuellen Fotolabor. Diese minimalistischen Eingriffe in die Bildsubstanz prägen auch viele Arbeiten der bildenden Kunst, einige der Künstler hattest du ja schon benannt: Christian Boltanski, Hans-Peter Feldmann u. a.
Dieser Selbstbeschränkung stehen natürlich viele neue Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung gegenüber. Diese digitale unumschränkte Verfügbarkeit über das Bildmaterial und seine Bestandteile erinnert sehr an das Sampling von Musik und Tönen wie sie in der Popmusik verwendet werden. Nur scheint mir das nicht zu solch einer medialen Revolution geführt zu haben wie das Musik-Sampling in all seinen Ausformungen bis hin zum „Remix“ von Songs. Digitale Bildmontage wird zwar schon als State of the Art ausgerufen, aber ein wirklicher Durchbruch ist für mich nicht erkennbar. Es sei nur erinnert an: „State of the Art Photography“, Ausstellung im NRW-Forum Düsseldorf (2012), Kuratoren: Andreas Gursky, Thomas Weski, Klaus Biesenbach, Udo Kittelmann, FC Gundlach, Thomas Seelig, Andrea Holzherr und Werner Lippert.
Wie ist die digitale Montage zu bewerten, wo liegen die Merkmale und das Potenzial dieser künstlerischen Herangehensweise? Wie unterscheidet sich dieses künstlerische Bewusstsein von den Denk-Methoden der künstlerischen Aneignung von Fotografie, wie wir sie in diesem Gespräch aufgezeigt haben?


Elmar Mauch
Den Grundunterschied der künstlerischen Aneignung von Fotografie und der digitale Bildbearbeitung sehe ich darin, dass das eine eine Denkhaltung beschreibt und das andere nichts anderes als ein Werkzeug ist. Natürlich hat aber dieses neue Werk- und auch Spielzeug die bildnerische Evolution ganz schön beschleunigt; und Begriffe wie Sampling und Remix wurden auch in künstlerischen Diskursen hinreichend thematisiert. Auf der technischen Ebene der Fotografie ist die mediale Reform längst Fakt. Ob sie das auf inhaltlicher Ebene auch ist, das versuche ich nachfolgend zu beschreiben.
Die Vielfalt der digitalen Werkzeuge, deren Entwicklung ich hautnah an der Kunsthochschule für Medien in Köln miterlebt habe, haben bei mir schon damals zu einer Veränderung des Denken und des bildnerischen Tuns geführt. Aber genauso ist mir schon früh klar geworden, dass Werkzeuge stets nur Mittel zum Zweck sein dürfen. Nicht das Mögliche, sondern das Notwendige sollte den Einsatz medialer Werkzeuge bestimmen. Deshalb ist deine Annahme, dass der technische Minimalismus bei meinen Bildforschungsarbeiten eine Art von Selbstbeschränkung sei, vollkommen irrig. Dinge auf eine einfache, aber stimmige Art so zu erzählen, dass Denkprozesse ausgelöst werden und das Erzählte eine Nachwirkung hat, gehört in jedem Medium mit zum Schwierigsten.
Optische Sensationen, wie sie durch digitale Bildbearbeitung vielfach auftauchen, können wohl zum Staunen animieren, haben aber meist eine sehr geringe Halbwertszeit und sind deshalb schnell wieder vergessen. Ohne eine inhaltliche Ebene entsteht eben oft nur Austauschbares. Bei der von dir genannten Düsseldorfer Ausstellung multiplizierte sich dieser Umstand für mich schon zu einem Ärgernis. Dort waren mehrere Arbeiten zu sehen, bei denen ihre dünnen Alibikonzepte nur notdürftig überdecken konnten, dass die Bilder nur deshalb entstanden sind, weil die technischen Möglichkeiten dafür vorhanden waren.


fotokritik
Zum Abschluss dieses Gespräches noch eine Frage zur Zukunft der klassischen Fotografie.
In der Geschichte der Fotografie gab es immer zwei Fotografentypen: Der eine, der im Studio mit großer Kamera und Kunstlicht seine Bilder imaginiert, und der Antipode, der Vagabund, der mit Kamera bewaffnet durch die Welt streift, um Nachricht von ihr zu bringen. Der Studiofotograf war vergleichbar mit dem Künstler im Atelier, der Fotograf mit der Kamera in der Hand auf der Suche nach Bildern ein Alleinstellungsmerkmal des Mediums (und auch des Dokumentarfilms). Die künstlerische Arbeit, wie du sie mit vorgefundenen Bildern beschreibst, die ja bis zur digitalen Montage reicht, entspricht der Ateliertätigkeit eines Malers und Bildhauers. Die Produktionsmittel sind der Computer und dessen technische Möglichkeiten, Bilder zu Materie zu machen.
Vor dem Computer im Atelier zu sitzen, prägt mittlerweile die Vorstellung von der Arbeit eines Fotokünstlers. Natürlich stellt sich die Frage, was ist mit der klassischen Apparate-Fotografie? Ist sie, wie ihr immer latent unterstellt worden ist, kein künstlerisches Medium? Dient sie lediglich dazu Rohmaterial herzustellen, das erst bearbeitet werden muss? Wie schätzt du die Zukunft der Entwicklung dieses Mediums ein?


Elmar Mauch
Bevor ich auf die Zukunft der klassischen Fotografie eingehe, möchte ich jedoch dem in deiner Frage auftauchenden Künstlerbild widersprechen.
Deinen Vergleich des Studiofotografen mit dem Künstler und seinem Atelier finde ich vollkommen unzutreffend. Die Arbeit des Künstlers ist weder geistig noch räumlich gebunden. Produktionsräume sind notwendig, stehen aber nicht zwangsläufig im Mittelpunkt von künstlerischer Arbeit. Bei meiner Arbeit als Künstler und Bildforscher würde ohne eine permanente Auseinandersetzung und einem kritischen Austausch über theoretische und philosophische Diskurse, über Ausstellungen, Publikationen und den Bildbegriff absoluter Stillstand herrschen und redundantes Zeug entstehen. Natürlich ist die praktische Umsetzung ein weiterer wichtiger Punkt, jedoch ist die geistige Auseinandersetzung, die an jedem Ort stattfinden kann, nach meiner Auffassung Grundlage und Zentrum einer jeder künstlerischen Arbeit.
Wenn nun Fotokünstler deiner Vorstellung nach vor dem Computer sitzen, mag das im Einzelfall so stimmen, jedoch entstehen interessante Arbeiten nur dann, wenn vorher Wahrnehmungsapparat und Gehirn eingeschaltet waren.
Nun zur klassischen Fotografie: Du unterscheidest zwei Fotografentypen. Da ist einmal der Kreative, der stets die Gestaltungsmöglichkeiten der Fotografie auszureizen versucht hat. Er ist von den neuen digitalen Werkzeugen förmlich überrollt worden. Die Studiofotografie alten Typs ist inzwischen fast vollständig zur digitalen Bildwerkstatt mutiert. Zum Know-how der Studiofotografie gehört neben der Herstellung des fotografischen Rohmaterials inzwischen wie selbstverständlich auch dessen digitale Bearbeitung. Die Studiofotografie war Handwerk, ist Handwerk und bleibt Handwerk.
Dem entgegen steht der Fotograf, der durch die Welt zieht, Krisengebiete besucht und die Welt immer nach Themen absucht, die er dann in Bildstrecken übersetzt. Diese Form des Zeigens von fernen und fremden Welten hat, glaube ich, in Zeiten der Globalisierung und des Netzes viel von ihrer ehemaligen Faszination verloren. Sind nicht schon alle Bilder irgendwie gesehen worden? Auf jeden Fall gibt es da Abnutzungserscheinungen. Meiner Meinung nach interessieren jetzt viel mehr die Hintergründe. Und die kann der Dokumentarfilm viel besser beleuchten.
Bleibt noch das dokumentarische Bild. Hier ist eine der ureigensten Stärken der Fotografie verborgen. Das hochauflösende, objektivierende fotografische Dokument eines Jetztzustandes wird auch in der Zukunft seine Bedeutung behalten. Denn hier kann die Fotografie mit ihren stillen Bildern das Bedürfnis nach Erinnerung und Vergegenwärtigung von Vergangenem bestens befriedigen.
Eine besondere Form der klassischen Fotografie, die meiner Meinung nach ebenfalls stets eine Existenzberechtigung haben wird, sehe ich durch Fotografen wie Lee Friedlander und Robert Adams repräsentiert. Sie wissen um die Stärken des ursprünglichen fotografischen Bildes und finden Bilder, die nur durch ihren besonderen Blick zu dem werden, was dann auf dem Fotoabzug erscheint. Diese sich auf die reine Kamerafotografie konzentrierenden Foto-Fotografen, Bildautoren und Rausgeher machen sich ihr eigenes Bild der Welt und thematisieren das Sehen. Sie nutzen die Kamera und deren optische Gesetzmäßigkeiten zur Übertragung ihres von Subjektivität und Sensibilität geprägten Blickes.
Die visuelle Kraft und Sensibilität, die aus diesen Fotografien spricht, und die die Besonderheit unseres individuellen Sehens thematisieren, vermag mich immer noch zu faszinieren. Denn sie haben eine der ureigensten Möglichkeiten der Fotografie, die Foto-Fotografie, meisterhaft umgesetzt. Und diese ureigenste Möglichkeit des Mediums wird immer eine Stärke der Fotografie sein, egal, ob analog oder digital umgesetzt. Ob es Kunst ist oder nicht, sollte uns egal sein.


fotokritik
Herzlichen Dank für das Gespräch.



Das Gespräch für fotokritik führte Thomas Leuner


Zur Person von Elmar Mauch:


Lehrtätigkeit an verschiedenen Kunsthochschulen Deutschlands und der Schweiz, u.a. von 1994–1999 interdisziplinäre Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule für Medien Köln, sowie von 2002–2009 Dozent für Fotografie an der Zürcher Hochschule der Künste.
2011 Gründung des Instituts für künstlerische Bildforschung, das sich der Analyse und Sichtbarmachung von Wirkmechanismen fotografischer Bilder zur Aufgabe gemacht hat.


www.ikb-bildforschung.de


Seit 1990 Ausstellungen im In- und Ausland, Werke in öffentlichen und privaten Sammlungen
Künstlerbücher: u.a. „ Die Bewohner“ erschienen in der Edition Patrick Frey, Zürich.


www.elmarmauch.de




08.06.2013