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Wieder einmal: Kindesmißbrauch

von Joachim Schmid


In den USA tobt seit einigen Wochen wieder einmal ein öffentlich ausgetragener Streit, der sich an Fotografien entzündete und dessen Echo mit geringer Verzögerung auch hier angekommen ist (siehe www.thomashawk.com/2006/04/jill-greenberg-is-sick-woman-who.html).


Worum geht‘s? Die Fotografin Jill Greenberg (www.manipulator.com/), die neben ihrer angewandten Arbeit für Zeitschriften, Werbung, Mode u.a. auch für den Kunstmarkt produziert, trat mit einer Serie von Kinderporträts an die Öffentlichkeit (www.paulkopeikingallery.com/artists/greenberg/). Den Bildern ist deutlich anzumerken, womit die Fotografin ihr Geld verdient, aber lassen wir diesen Aspekt hier beiseite, da die Nähe zur gelackten Oberfläche in diesem Zusammenhang allenfalls von untergeordneter Bedeutung ist. Den dargestellten Kindern ist gemeinsam, daß sie im Augenblick der Aufnahme weinten. Unbestritten ist, daß die Fotografin dieses Weinen stimulierte, etwa indem sie den Kindern – in Anwesenheit und unter Aufsicht derer Eltern – etwas Süßes aushändigte, nur um es ihnen, mit weitgehend absehbaren Folgen, umgehend wieder wegzunehmen. Diese Methode scheint in der Branche, in der die Fotografin vorwiegend tätig ist, üblich und akzeptiert zu sein, und ich kann - zugegeben in dieser Hinsicht unerfahren – darin auch nichts sonderlich Schlimmes, Grausames oder Schädigendes entdecken. Aber das will ja nichts heißen.


Ein gewisser Thomas Hawk etwa (thomashawk.com/), der offenbar mit Begeisterung, Hingabe und großem Talent schöne Dingen wie Blumen oder Modellautos fotografiert und über dessen Horizont und Vorlieben wir uns einen Eindruck verschaffen können, wenn wir seine Link-Liste abklicken, sieht die Dinge ganz anders. Ohne allzu große Umschweife kam er beim Anblick der Fotos zu dem Schluß: „Jill Greenberg ist eine kranke Frau, die verhaftet und wegen Kindesmißbrauch angeklagt werden sollte.“ Bereits dieser eine Satz offenbart eine Haltung, die mit rechtsstaatlichen Ideen kaum vereinbar ist, denn wegen Krankheit sollte eben niemand verhaftet werden. Zudem ist Kindesmißbrauch kein Kleckerkram, die Denunziation ist also schwerwiegend. Es gibt zuständige Staatsanwälte und Richter, die sich um solche Dinge kümmern, und es sollte einen zumindest stutzen lassen, wenn diese in einem einschlägig aufgeheizten Klima keine Initiative ergreifen. Doch schien sich an solchen Kleinigkeiten kaum jemanden zu stören. In den hunderten von Kommentaren, die Hawks direkt vom Stammtisch kommendem Blog-Eintrag folgten, finden sich all die unappetitlichen Einzelheiten, aus denen sich das fundamentalistische Gebräu der „moral majority“ Amerikas zusammensetzt. Aus demselben Milieu, in dem die Schöpfungsgeschichte mit ihrem neuen Etikett „intelligent design“ als der Weisheit letzter Schluß gepriesen wird, wird mit harten Bandagen gegen alles gekämpft, was nicht ins reaktionäre Weltbild paßt.


Zunächst erhob sich Protest gegen die Methode, die die Fotografin anwandte, um die Kinder zum Weinen zu bringen. Sehr bald jedoch wurde deutlich, daß es auch um die Tränen selbst geht, die den Kommentatoren nicht passen. Als „krank“ wird die Idee eingestuft, überhaupt weinende Kinder zu zeigen, wobei – zu allem Überfluß – die etwas dick aufgetragenen Bildlegenden nahelegen, daß die Kinder über den Verlust ihrer eigenen, von der gegenwärtigen Regierung versauten Zukunft weinten. Das darf natürlich nicht sein, in „God‘s own country“ gibt‘s doch keinen Grund zu weinen, auch wenn die Kinder bei jedem Besuch im Supermarkt erleben müssen, daß sie nicht alle zur Schau gestellte Quengelware kriegen. Wenn man jetzt einmal versuchsweise verallgemeinert, könnte der Vorgang, jemandem Süßkram anzubieten, diesen aber nicht wie versprochen auszuhändigen, als Metapher für die gegenwärtige Situation der amerikanischen Gesellschaft gesehen werden. Da gibt‘s in der Tat Grund genug zum Weinen, und es wird verständlich, daß sich bei denjenigen, für die die Welt in Ordnung ist, Protest regt.


Sehr schnell entdeckten die eifrigen Kommentatoren dann auch, daß die Kinder unbekleidet sind – zumindest der in den Fotos sichtbare Teil, und das ist bei Brustbildern nicht sehr viel. Zu viel scheint es jedenfalls zu sein, und die Empörung darüber steht der über den vermeintlichen Kindesmißbrauch in nichts nach. Es äußert sich hier wieder einmal bilderfeindlicher Puritanismus, wobei das erwähnte Milieu kollektiver Paranoia, die in jedem guten Onkel den potentiellen Kinderficker sieht, als Resonanzboden dient. Neue Argumente, die wir nicht bereits bei ähnlichen Auseinandersetzungen (Sally Mann, Jock Sturges) kennengelernt haben, tauchten dabei nicht auf, und mit denen, die in penetranter Monotonie vorgetragen werden, ließe sich auch die Schließung öffentlicher Badeanstalten fordern.


Was bleibt? Keine Pointe, außer vielleicht diese: Die angegriffene Fotografin schlachtet die gegen sie laufende Kampagne in Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann (www.anothergreenworld.blogspot.com/) professionell aus – wie man ihrer Website entnehmen kann, laufen die Geschäfte prächtig.

31.07.2006


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Schlagworte: Jill Greenberg, Kindesmißbrauch