von Thomas Leuner
Am 27./ 28. Oktober 2006 fand an der Fachhochschule Bielefeld ein
Symposium zur „Fotografie im Diskurs performativer Kulturen“ statt
www.fh-bielefeld.de/article/fh/5035. Dabei ging es um die Fotografie
als „Aufführung“, also um die Frage, wann ein Foto inszeniert ist und
wann es lediglich gefunden wurde. Dies vor dem Hintergrund der
sogenannten Verlustdebatte – „hat die analoge Fotografie noch einen
Platz im digitalen Zeitalter?“
Nicht nur die „Verlustdebatte“ ist rein literarischer Natur, auch die
Frage des Performativen dient nicht dem Erkenntnisgewinn. Vielmehr
zielt diese Strategie darauf ab, ein Segment der Fotokunst als
„richtige“ Kunst aus der Fotografie herauszulösen. Gewisse Fotografen
verfolgen eine künstlerische Strategie: eine Inszenierung des
Gefundenen. Das wird dann als „performativ“ etikettiert – das heilige
Wort „Performance“ schwingt schon mit. So wird aus dem Fotografen ein
Künstler. Ähnliche Strategien wurden schon mit „konzeptionell“ und „Installation“ betrieben, ohne das mit medienspezifischen Inhalten zu füllen. Seit den Zeiten des Piktoralismus geht es immer um die Flucht des Bürgerlichen vor der Modernität der Fotografie, also der Flucht vor dem Automatismus des Fotografierens - dem eigentlichen Kern des fotografischen Prozesses.
Hier bestätigt sich wieder der Verdacht, dass harmlose bildnerische
Manipulationen zu medialen Neuigkeiten und künstlerischen Strategien
aufgepumpt werden. Denn der Theoriebefund ist dürftig: Seit Herta Wolfs Textsamplern “Paradigma Fotografie“ und “Diskurse der Fotografie“ sind nennenswerte Veröffentlichungen nicht zu vermelden. Die aktuellen medialen Umbrüche und ihre Hintergründe bleiben im Theorie-Dunkel.
Die deutsche Fototheorie ist ähnlich wie die Sozialwissenschaften von
den neuen Ereignissen überrollt worden. Die flüchtige Verbreitung von
Wort und Bild stellt einen fundamentalen Einschnitt dar, der mit der
Erfindung des Buchdrucks zu vergleichen ist. Auch die Definition des
Fortschritts wird durch die wiedererstandenen Naturwissenschaften und die kulturellen Antriebskräfte religiöser Ideologien bestimmt. Hier muss sich die mediale und künstlerische Fototheorie erst vom Schock der Bedeutungslosigkeit erholen und die Aufarbeitung des Geschehenen
aufnehmen. Die Philosophen haben sich schon an die Arbeit gemacht, wie jüngst Peter Sloterdijk mit „Zorn und Zeit“ gezeigt hat.
Wohin die Fragen der Kunstschaffenden zielen könnten, sollen zwei kurze Texte des Autors zeigen. Der erste Text ist eine Anmoderation im Rahmen der „Gespräche zur Fotografie“ im November 2002 in der Kunststiftung Poll zum Thema: “Verlust der Realität, Gefährdung der Fotografie?“ Der zweite Text entstand zu dem Portrait-Projekt die „mimetische Existenz“ und versucht die Debatte zur Fotografie des Gesichts zu entideologisieren.
I. “Gespräche zur Fotografie“
Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße sie sehr herzlich zu
unserem dritten Abend der Gespräche zur Fotografie und möchte Ihnen
Frau Giedre Bartelt vorstellen, die den heutigen Abend bestreitet. Die Veranstaltung gestern Abend war sehr kontrovers und mit lebhafter
Publikumsbeteiligung. Durfte Herr Gursky aus schlechter
Beton-Architektur (Uni-Bochum) ein italienisches Arkadien machen?
Vielleicht stellt sich auch heute wieder eine ähnliche Kontroverse ein. Sie sind herzlich gerne aufgefordert, sich am Gespräch zu beteiligen.
Zu Beginn der letzten beiden Abende hatte ich kurz den Zusammenhang
der Gespräche mit dem Thema der Ausstellung – die Realität und die
Auswirkung auf die Fotografie – dargestellt. Diese Einführung möchte
ich noch einmal kurz wiederholen:
1. Der überaus große Erfolg der Fotografie als gleichberechtigtes
Medium in der Bildenden Kunst und als bildnerisches Medium in der
Alltagskultur hat dazu geführt, dass sich völlig neue Personengruppen
mit der Fotografie beschäftigen und größere gesellschaftliche
Intelligenz und Geld für die Fotografie aufgewandt werden. Das
Nischendasein der Fotografiekultur der 70er und 80er Jahre wurde damit abrupt beendet. Nur ein Beispiel für diese neuen Interessenten: die Kunstwissenschaft, der Kunstbetrieb, Künstler, die nicht von der klassischen Fotografie herkommen.
2. Das Aufkommen der Neuen Medien und die Digitalisierung der
Fotografie – also der "erweiterte Fotografiebegriff“: Fotografie ist,
was auf Fotopapier zu sehen ist, also z. B. die inszenierte Fotografie, die digitale Montage, im Computer gerenderte Bilder usw. Nicht gemeint ist damit die Debatte, ob die Fotografie durch die digitale Manipulierbarkeit ihre Wahrheit verloren hat.
3. Vielleicht als wesentlicher Punkt – die gesellschaftliche Verunsicherung darüber, was Realität ist. Diese Verunsicherung beruht
auf den neuen Forschungsergebnissen über das "Sehen des Menschen". Als Stichwort: Sehen als kreativer Prozess – Sehen als Malen. Sicherlich
werden Sie sich an den Spiegel-Artikel in der letzten Woche erinnern,
in dem ein Mann vorgestellt wurde, der durch eine Operation das Licht
der Welt erblickte, aber dadurch nicht sehen konnte. In seinem
fortgeschrittenem Alter würde er das auch nicht mehr lernen können. Was wir sehen, ist nicht automatisch die Realität, sondern wir formen aus den Lichtwellen durch unser gelerntes Sehen die Realität. Also besteht die Realität in einer kollektiven Übereinkunft, wie die Umwelt, das gesellschaftliche Verhalten, gedeutet werden soll. Dies bedeutet aber nicht, dass alles relativ ist und jeder seine eigene
Wahrheit hat. Sondern die Diskussion über Realität und ihre Definition bewegen sich in den engen kulturellen Grenzen der jeweiligen Kultur.
Aufgabe der Fotografie ist es, sich an diesen kulturellen Grenzen zu
reiben und diese Grenzen zu erweitern.
Hier fügen sich die Themen unserer Gespräche ein. Karl Ludwig Lange hat vielleicht die radikalste Vorstellung von Dokumentarfotografie - die topografische Fotografie, in der anekdotische Bilder als Verlust an Realität empfunden werden. Gerhard Ullmann mit der beschreibenden Fotografie und Unterwerfung des Fotografen unter die Bedeutung des Sujets, hier am Beispiel der subjektiven Architekturfotografie Gurskys. Frau Giedre Bartelt in der klassischen Tradition der Kunstfotografie, die das Dokumentarische als eine Spielart der Kunst der Fotografie betrachtet und Frau Andrea Domesle, die die Fotografie als eine Variante der Neuen Medien einordnet, als Fotokunst aus der Sicht der Kunstwissenschaft. Also vier ganz unterschiedliche Positionen, die glücklicherweise eine ansteigende Linie bilden und dabei den Begriff Realität zusehends erweitern und auflösen.
II. "Die mimetische Existenz“.
Die Lage ist eindeutig: Der Fotograf hat die Kamera – er macht das
Bild. Der Fotografierte ist das Objekt, das Material. Meistens wird so getan, als gäbe es diese klare Einteilung nicht, als wären die Kontrahenten Vertragspartner. Das ist zwar politisch korrekt, aber
falsch. Das Gesichtsportrait ist das ideologisch am höchsten aufgeheizte Sujet der Fotogeschichte. Besonders in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden darüber weltanschauliche Kämpfe ausgefochten, die vom germanischen Volksgesicht einer Lendvai-Dircksen, dem stilisierten Arbeitergesicht eines Helmar Lerski und der typologischen Inszenierungen eines August Sander reichten. Bis heute wird immer noch die sich darin spiegelnde romantische Vorstellung propagiert, ein Gesichtsportrait sage etwas über die Person, den Charakter oder den Menschen aus, der fotografiert wurde. Folgerichtig wird dem Fotografen die Macht zufantasiert, er könne gegenüber den Portraitierten Gewalt anwenden. Eine der häufigsten Wendungen des literarisierenden Feuilletons ist es daher, dem Fotografen zu attestieren, er habe den Fotografierten ihre "Würde“ gelassen. Was immer Würde auch sein mag, offensichtlich hatte der Fotograf nichts zu sagen, was irritieren könnte. Heute wird das Gesicht ausschließlich als ein hochdifferenziertes Kommunikations -mittel begriffen. Es wird bewusst und unbewusst von dem jeweiligen Träger eingesetzt, um mit ihm in Zeichenkürzeln mit der Umwelt zu kommunizieren. Für das fotografische Portrait bedeutet dies, die Zeichenkürzel in bildtaugliche Abstraktionen umzusetzen. Dabei ist dem Menschen der Einfluss auf die Grundelemente seines Gesichts entzogen. Diese Grundelemente werden durch biologische Abläufe bestimmt und verändert, sie können vom einzelnen Menschen kaum beeinflusst werden. Lediglich die Lebensführung kann diesen Prozess beschleunigen oder verlangsamen. Wenige Brachialmethoden stehen zur Verfügung: die Operation und die Maskierung. Diese für die Willensfreiheit des Menschen kränkende Einsicht führt zum Kern der Funktion des Gesichts:der mimetischen Existenz – einem hochkomplexen System, das einen wesentlichen Teil des Informationsaustauschs des alltäglichen Lebens bewerkstelligt.
28.12.2006
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