www.fotokritik.de

Blog zur zeitgenössischen Fotografie
und digitalen Bildkunst
 

  Ein Fotobuch mit Seele?
von Thomas Wiegand

Eine innovative Ausstellung zu Xavier Miserachs Fotobuch „Barcelona blanco y negro“ (1964) ist noch bis März 2016 in Barcelona zu sehen.


Fotobücher werden zunehmend in Ausstellungen integriert oder sie sind sogar deren Hauptgegenstand. Ungeachtet dessen sind die Möglichkeiten, wie man ein Buch ausstellt, bislang beschränkt gewesen: das Objekt ein- oder mehrfach in der Vitrine, ein Video, das zeigt, wie in dem Buch geblättert wird, Abzüge oder Reproduktionen an der Wand, Zusatzmaterial wie Archivunterlagen, dokumentarische Filme oder Verlagswerbung, hin und wieder auch Installationen und Kulissen, selten der originale Buchentwurf oder, bei mutigen Kuratoren, dürfen die Besucher sogar das originale Buch in die Hand nehmen. So weit, so gut.


Der spanische Kurator und Autor Horacio Fernandez gehört seit langem zur Avantgarde der Fotobuchforscher. Bestätigt wird dies durch eine von ihm verantwortete Ausstellung, die das 1964 erschienene Fotobuch „Barcelona blanco y negro“ des katalanischen Fotografen Xavier Miserachs (1937-1998) thematisiert. Die Ausstellung in Barcelonas Museum für moderne Kunst (MACBA) heißt „Miserachs Barcelona“, nicht „Miserachs Barcelona Book“, auch wenn sie auf dem Buch basiert. Sie hat bei den dortigen Rezensenten und Besuchern Staub aufgewirbelt, worüber in einem Symposium berichtet wurde. Denn die Präsentation kommt ganz ohne die sonst als unverzichtbar erachteten Originalabzüge aus. Kein „Dummy“, keine Vintageprints, unerhört! Nein, die sich über fünf Stationen bzw. Räume erstreckende Ausstellung dokumentiert nicht das Buch und die darin enthaltenen Fotos, hat noch nicht einmal die vordringliche Aufgabe, es in seiner Historie und Objekthaftigkeit zu dokumentieren, sondern die Schau nimmt interpretierend den Zeitgeist des Werkes auf und versetzt den Besucher sozusagen direkt hinein ins Geschehen. Wie haben es die Kuratoren und Gestalter in Barcelona geschafft, diesen Sog zu erzeugen?


An der Wand der großen Eingangshalle des Museums findet sich zum Auftakt ein Panorama aus großformatigen Reproduktionen mit Motiven aus dem Buch, an durchgehenden Horizont-, Ufer- oder Gebäudelinien in wechselnden Größen aneinandergefügt. Das erste Kabinett setzt die Präsentation von Großformaten fort, allerdings jetzt in einem Stellwandsystem, das ganz bewusst vom Design von Edward Steichens Ausstellung „The Family of Man“ (1955) inspiriert war, so wie auch Miserachs bzw. sein Layouter, der Maler und Graphiker Albert Rafols-Casamada (1923-2009), damals diese Ausstellung als Inspirationsquelle rezipiert haben müssen. Ihr zweites wichtiges Vorbild war William Kleins Buch über New York (1956), eines der einflussreichsten Fotobücher überhaupt.


Das zweite Kabinett geht noch einen Schritt weiter, indem aus plakatwandgroßen Reproduktionen von Miserachs Fotos Teile ausgeschnitten und leicht versetzt wieder eingefügt wurden, also eine gewisse Raumwirkung erzielt wurde. Die entstehenden Lücken wurden mit farbigem Licht gefüllt, gleichzeitig erlaubten die Lücken in den Bildtafeln einen Blick hinter die Kulissen. Ein wenig erinnerte diese Installation an expressive Stummfilme der 1920er-Jahre.


Für den nächsten Raum wurde diese Dekonstruktion der Bilder noch weiter getrieben, so weit, dass sich der Betrachter plötzlich selbst in die Szenarien integriert sah. Eine ausgeklügelte Projektion mit wechselnden farbigen Hintergründen sowie Spiegel- und Schatteneffekten führte zu diesem Ergebnis. Miserachs Beitrag waren die von den Ausstellungsgestaltern aus seinen Bildern freigestellten und in wechselnden Gruppen aufscheinenden Passanten. Das hat mit den ursprünglichen fotografischen Kompositionen fast nichts mehr zu tun, aber viel mit einer kongenialen Vermittlung der Atmosphäre, wie sie Miserachs auf den Straßen der Stadt vorgefunden und eingefangen hat. Der Raum war zudem von Stimmen und Straßengeräuschen erfüllt. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, was der schon lange verstorbene Fotograf dazu gesagt hätte. Angesichts seines Buches wird aber schnell klar, dass ihm daran gelegen war, die Stadt als lebendigen Organismus darzustellen und nicht in ihrem Gewerbefleiß oder als touristisches Highlight. Es ist daher anzunehmen, dass er mit dieser Form der Interpretation seiner Arbeit einverstanden gewesen wäre.


Der vierte Raum führte dann direkt zum Buch. Einerseits wurde der stilisierte Stadtplan, in dem Miserachs seine Streifzüge markiert hatte, im Riesenformat an die Wand gebracht. Andererseits waren hier zwei typische Elemente für Fotobuchausstellungen zu finden: ein Video, in dem das Buch geduldig von vorn nach hinten durchgeblättert wurde, und eine Vitrine mit den vier damals erschienenen Versionen des Buches: in Spanisch, Katalanisch, Französisch und in der seltenen, mit einem illustrierten Schuber ausgestatteten spanischsprachigen Luxusausgabe. Das Blättervideo wurde auf einer Leinwand gezeigt, deren zwei Teile im Winkel zueinander aufgestellt waren, was den räumlichen Eindruck eines aufgeschlagenen Buches andeutete. Eine einfache, aber passende Anordnung!


Als Schlusspunkt des Parcours hätte man dann doch das originale Buch auf einem Tisch vorfinden müssen, in Szene gesetzt mit Leselicht, weißen Handschuhen für die Betrachter und einem abgewinkelten Gestell zur Schonung der Bindung des ziemlich großen und schweren Bandes. „Barcelona blanco y negro“ hatte immerhin eine Gesamtauflage von 8000 Stück und bei dem ohnehin hohen Aufwand für die Ausstellung wäre sicherlich auch der Etat für ein paar (am Ende wohl zerschlissene) antiquarische Originale von 1964 und 1965 zu stemmen gewesen (Stückpreis 100-400 Euro). Auf diese Weise hätte man die Ausstellung noch deutlicher auf das Ausgangswerk, eben Miserachs Buch, zurückführen können, als es ohnehin schon mit der Projektion und der Versionen- und Schutzumschlag-Vitrine getan wurde. Es ist schon etwas anderes, wenn man ein 51 Jahre altes, wertvolles Buch selbst anfassen, darin frei „navigieren“ darf, die Druckqualität vor Augen hat, das Papier erspürt, das Rascheln und Knarzen beim Umschlagen der Seiten hört, vielleicht auch nach den Motiven sucht, die man in den Räumen zuvor gesehen hat... Dieses Erlebnis kann kein Blättervideo ersetzen.


Nachträglich wurde im Nachbarraum noch die Zusatzausstellung „Xavier Miserachs Archive“ eröffnet, deren kryptischer Name „A.XMI“ auf die im Museum verwahrten Nachlass von Miserachs (und auf dessen Inventarnummern) verweist. Die Ordnung des Archivs und die Schritte zu deren Aufarbeitung waren Leitmotive dieses Raums, der an den Wänden Texte und sogar Beispiele für das verwendete Archivierungsmaterial präsentierte und in vielen Vitrinen eine Fülle von originalem Material bereithielt: Schriftstücke, Publikationen, Kontaktbögen (mit hilfreichen Betrachtungslupen!) und Dias. Abzüge sind in Miserachs Nachlass fast keine enthalten, der Schlüssel für das gänzliche Fehlen entsprechenden Vintage-Materials in der Ausstellung und das weitgehende Fehlen von größeren Prints im Nebenraum „A.XMI“. Allerdings fragt man sich, ob es wirklich keine präsentablen Abzüge von Motiven aus Miserachs Barcelona-Buch gibt, wenn nicht im Nachlass, dann doch an anderen Stellen.


Dass auch das Rahmenprogramm mit einem Seminar mit Beiträgen über Miserachs Fotobuch, über die Geschichte von fotografischen Ausstellungen, zu Fotobüchern über Städte, über den Stellenwert von Reprints oder Neuauflagen und über die Rezeption der aktuellen Ausstellung entsprechend ausgerichtet war, überrascht ebenso wenig wie die als ungebundenes Portfolio gestaltete Begleitpublikation. Diese ist kein pflichtschuldiger Katalog, sondern eine Fortsetzung der Ausstellung mit anderen Mitteln, nämlich als Neuinterpretation von Miserachs Fotobuch. Die Fotos sind hier jeweils ganzseitig wiedergegeben; die Blätter sind dabei nicht gebunden, sondern ineinandergelegt, sodass man entweder überraschende Kombinationen auf den Doppelseiten findet oder das Buch ganz auseinander nehmen kann, um jedes Bild ohne Gegenüber einzeln betrachten zu können. Die Frage, wie man das Ganze nach intensiver Nutzung wegen der fehlenden Bindung und Nummerierung wieder in die von den Gestaltern gedachte Ausgangsreihenfolge zurücksortiert, sollte man sich lieber nicht stellen. Das durch rote Transparentseiten gegliederte, nur wenige Textpassagen enthaltende Portfolio bringt eine Auswahl von Miserachs Bildern in guter Druckqualität und auf mattem Papier zur Geltung. Eine sowohl moderne als auch von Casamadas Design von 1964 inspirierte Lösung, die perfekt zur Ausstellung passt. Hinsichtlich des Buches bleiben nur zwei Fragen offen: Warum ist es beim Verlag preiswerter als im Museum (sonst ist es ja immer genau umgekehrt) und wie sieht die ebenfalls angekündigte, fest gebundene Version aus?


Kein Wunder, dass die unorthodoxe Ausstellung Kritik herausforderte. Denn der sonst übliche Standard, vor allem mit Vintage-Prints zu arbeiten, wurde zugunsten von so noch nie gesehenen, aus dem Buch von 1964 entwickelten Inszenierungen lustvoll und selbstbewusst ignoriert. Genau genommen stimmt das aber nur halb, denn der Anhang über Miserachs Archiv erdete die Präsentation soweit es anhand des überlieferten Materials möglich war. Wirklich perfekt wäre es gewesen, den Hauptparcour mit einem offen liegenden Originalexemplar des Buches abzuschließen.


Nach dem Besuch dieser Ausstellung sieht man Miserachs Buch jedenfalls mit anderen Augen. Man spürt, dass es, ähnlich anderen großen Fotobüchern über Städte, beseelt ist. Es geht dabei weniger um das meisterliche Einzelbild, nicht um die Vollständigkeit im Abhaken der Sehenwürdigkeiten und nicht um das Abarbeiten der Standards, die sich für Städtebücher herausgebildet hatten. Das Vintage-Buch behält seine Aura, seine Authentizität, die bei einer Neuausgabe, bei einem Reprint oft verloren geht. Ausstellung und „Katalog“ haben dem Buch seinen Rang gerade deshalb belassen, weil sie sich nicht in das einzelne Bild verbeißen, sondern sich darauf beschränken, der Seele eines bedeutenden Fotobuchs nachzuspüren.


Die Möglichkeiten, wie man ein Fotobuch ausstellen könnte, sind noch lange nicht ausgeschöpft; in Barcelona wurden neue Wege gewiesen.



Ausstellung „Miserachs Barcelona“ (bis 27.3.2015): www.macba.cat/en/exhibition-xavier-miserachs/1/exhibitions/expo


Ausstellung „A.XMI“ (bis 27.3.2015): www.macba.cat/en/exhibition-axmi-miserachs/1/exhibitions/expo


Begleitband: Miserachs Barcelona, Barcelona: MACBA / RM Verlag, 2015 (Softcover mit Schutzumschlag, ungebundenes Portfolio mit 144 S. im Format ca. 29 x 20 cm), kurzer Text in Katalanisch, Spanisch und Englisch, Gestaltung Ramon Pez und Laia Abril, ISBN 978-84-16282-33-3 www.editorialrm.com/2010/product.php?id_product=352


25.11.2015