Thomas Leuner „Nachgefragt“ - Gespräche zur aktuellen Situation der zeitgenössischen Fotografie:
von Redaktion
Die Honnef-Debatte ‒ Teil 2: Cancel Culture
Über das Phänomen Cancel Culture wird seit Jahren intensiv diskutiert. Dabei fallen Begriffe wie Shitstorm, Meinungsverbot und Zensur. Die Motive, Debatten und Handlungen einzelner AkteurInnen sind sehr unterschiedlich – sie reichen von der Demolierung von Denkmälern strittiger Personen über Kritik an Darstellungen in Kunst und Literatur bis hin zum Appell an Firmen und Institutionen, ihre Geschichte zu hinterfragen.
Honnefs Artikel „Die dunklen Seiten der Moderne“, erschien in der Kunstzeitung im November 2020 und dient als Basis für das folgende Gespräch über die Ankunft der Cancel Culture in der Fotoszene. Vornehmlich geht es Klaus Honnef um die moralischen Grenzen des Fotojournalismus, eine vermeintliche Deutungshoheit und die Gefährdung durch akademische Eliten.
Link zum Artikel: lindinger-schmid.de/wp-content/uploads/2020/11/KUNSTZEITUNG-2020_11.pdf, Seite 19
fotokritik.de:
Am Ende seines Artikels gibt Klaus Honnef Beispiele von vermeintlicher Cancel Culture in der Fotoszene. Er verweist auf das Bild „Falling Man“ von Richard Drew, das aufgrund der Kritik „aus dem Netz verschwunden“ sei, und auf David Alan Harvey und seine 1989 fotografierte Serie „Bangkok Prostitutes“. Die Serie, die bei Magnum online verfügbar war, führte zu einer Debatte, die die Agentur schließlich veranlasste, ihr Archiv zu überprüfen. Gibt es für dich Grenzen in der dokumentarischen Fotografie?
Thomas Leuner:
Meint Klaus Honnef wirklich die dokumentarische Fotografie? Und was ist das eigentlich? Gerade ist in Kunstforum international der Band 273 „Report. Bilder aus der Wirklichkeit“ erschienen. In diesem bunten Strauß von Artikeln ist alles dokumentarisch, was sich irgendwie mit der gesellschaftlichen Realität auseinandersetzt und dies mit technischen Bildmitteln darstellt. Mit anderen Worten: Der Begriff dokumentarische Fotografie hat sich in Nebel aufgelöst und ist zu einem PR-Label geworden: „Meine Arbeit ist gesellschaftlich relevant!“ Honnef umgeht die Debatte um das Dokumentarische und spricht von „Medienwirklichkeit“, in der die Cancel Culture ihre Opfer fordere. Das ist schon ganz elegant, denn er integriert auch die sozialen Medien als einen Teil der Öffentlichkeit, in der über Fotos gestritten wird. Um auf deine Frage zurückzukommen: Von der Seite des künstlerisch Fotografischen gibt es keine Grenzen bei der Darstellung von Ereignissen der realen Welt. Grenzen gibt es natürlich bei der Veröffentlichung und da setzt Klaus Honnef an.
fotokritik.de:
Aber tragen FotografInnen nicht eine moralische Verantwortung für ihre Bilder und die Art und Weise, wie sie entstehen? Eine Verantwortung, die einzelnen Motiven und Themen Grenzen setzt?
Thomas Leuner:
Sicherlich, ich bin ja kein Anarchist, der für bedingungslose Verwertung von Bildern steht. Aber die künstlerische Tätigkeit hat anarchistische Züge, sie ist intuitiv und unterliegt keinen Regeln. Sonst hangele ich mich als Künstler vor lauter Ängstlichkeit an Bildklischees und vermeintlichen Verboten entlang. Erst im zweiten Arbeitsschritt kommt die rationale, die gedankliche Ebene: Führe ich dieses Projekt weiter? Stimmt es mit meinen Vorstellungen überein? Wie und wo hat es seinen Platz in der Öffentlichkeit? Diese beiden grundverschiedenen Ebenen werden in der allgemeinen Diskussion durcheinandergebracht, meist von denen, die keine Vorstellung haben, wie die künstlerisch-kreative Arbeit abläuft.
fotokritik.de:
Im Fall von David Alan Harvey wurde besonders über die Rolle der Bildagenturen gesprochen. Als Reaktion auf die Kritik hat Magnum die Bilder der Serie aus dem Onlinearchiv gelöscht. Wie beurteilst du diese Entscheidung?
Thomas Leuner:
Natürlich ist Kinderpornografie und Kinderprostitution – beides Aspekte, die in den Bildern von Harvey als Sujets verhandelt werden – ein für die Fotografie relevantes Thema. Letztendlich findet man im Netz zu allen erdenklichen menschlichen Ereignissen Bilder, leider auch solche, die dann auf kinderpornografischen Seiten landen. Daher ist es schwer nachvollziehbar, warum professionell mit der Fotografie Arbeitende gewisse Themen nicht fotografieren dürfen. Der Fall Harvey zeigt dagegen Probleme bei der Veröffentlichung von Fotos in einem Wirtschaftssystem, das von einem gewinnorientierten Bildermarkt geprägt ist. Für Magnum als einen der Global Player im Bereich anspruchsvoller Fotojournalismus war es zwingend, geschäftsschädigende Fotos aus dem Verkauf zurückzuziehen. Natürlich kann Harvey die Fotos selbst im Netz vertreiben. Solange ihre Inhalte nicht gegen Straftatbestände verstoßen, ist das möglich, nur kommerziell natürlich erfolglos. Gerade dieser Fall zeigt, dass man in der Fotoszene genau hinsehen muss, ob überhaupt etwas gecancelt wird oder ob es sich um eine Diskussion über die Art und Weise der Verwendung von Fotos in der Medienöffentlichkeit handelt.
fotokritik.de:
Gibt es bei diesen Diskussionen nationale Unterschiede?
Thomas Leuner:
Im Honnef-Artikel und auch in anderen Diskussionsbeiträgen in der deutschen Fotoszene zur Serie „Bangkok Prostitutes“ zeigt sich ein Unverständnis, wie Magnum vor dem Shitstorm so schnell einknicken und die Fotos sperren konnte. Eine der Erklärungen findet sich, wie beschrieben, in der kommerziellen Ausrichtung der Fotoagenturen. Die Agenturen zielen nicht auf die Freiheit des Fotos, sondern auf ein Image, mit dem sie die Fotos am besten verkaufen können. Im Fall Harvey kommt, wenn wir den Blick nach Frankreich werfen, eine besondere Kulturlage hinzu. Heute nicht nachvollziehbar, erschien 1977 in der Zeitung Le Monde ein Aufruf, in dem die Aufhebung des Pädophilieverbots gefordert wurde, unterschrieben von der linken Kulturelite von Sartre über Aragon bis Barthes. Es sind die Ausläufer der 68er-Revolte und der „Befreiung der Sexualität“ als Vorrecht Einzelner. Ein Kulturbrandherd, der immer noch schwelt, wie jüngst die Pädophilie-Debatte über den Philosophen Michel Foucault zeigte. Auch weil die Agentur Magnum tief in die französische Kultur eingebunden ist, war die sofortige Sperrung der Fotos zwingend. Entsprechende Positionen zur Pädophilie gab es in den 70er-Jahren in Deutschland nur in Randbereichen der Grünen und autonomen Linken, insofern fehlt für den deutschen Diskurs diese kulturelle Brisanz.
Wie unterschiedlich das kulturelle Umfeld sein kann, belegt auch der im Zusammenhang mit Cancel Culture häufig genannte Fall des Fotografen und Verlegers Martin Parr. Parr hatte das Vorwort zu einer veränderten Neuausgabe von Gian Butturinis Fotobuch „London“. In dem erstmals 1969 erschienenen Fotobuch wurde die Aufnahme einer schwarzen Frau einem Foto eines Gorillas im Londoner Zoo auf einer Doppelseite gegenübergestellt. Der Rassismusvorwurf hat in der englischen Kultur eine erhebliche Brisanz, wie jüngst die Affäre um das englische Königshaus gezeigt hat. Martin Parr musste also, um das Image seiner Stiftung als wohltätig aufrechtzuerhalten, konsequent reagieren. Er entschuldigte sich, das Buch wurde eingestampft.
[Hinweis der Redaktion: Mehr Informationen zu diesem Vorfall finden sich in Wiegand, Thomas (2021): Der „Fotoreporter der Gegenkommunikation“. Mit Gian Butturini in London und in der DDR – Fotobücher „neu gelesen“, Folge 9, www.fotokritik.de/index.php?art=228&page=1.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Gespann Gerry Badger/Martin Parr mit ihrer Bewertung historischer Fotobücher in die Kritik gekommen ist. Vgl. dazu Leuner, Thomas (2006): Leuners „fortlaufende Anmerkungen“, Nr. 4, www.fotokritik.de/index.php?art=9&page=1.] .
Es ging um das Fotobuch von Dr. Hans Killian, Facies Dolorosa - das schmerzensreiche Antlitz, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1934“.
Mit etwas Fantasie könnte man sich auch einen entsprechenden Fotoskandal in Deutschland vorstellen. Eine Reportage einer deutschen Agentur über Palästina mit erkennbar antisemitischen Tendenzen würde auch sofort gesperrt werden und hätte Konsequenzen für die FotografInnen.
fotokritik.de:
Es wirkt an dieser Stelle so, als würdest du unterschiedliche gesellschaftspolitische Themen – Antisemitismus, Rassismus, Pädophilie – auf eine Stufe stellen.
Thomas Leuner:
Ja, du hast recht, ein schönes Beispiel für gedankliche Unklarheit, die Cancel Culture produzieren kann. Natürlich sind Diskriminierungen nicht vergleichbar, schon aufgrund der unterschiedlichen nationalen Kulturen und ihrer sozialen Bedingungen. Was mir nur auffällt, ist, wie leidenschaftlich diese Diskussion über vermeintliche Zensur von Fotografie durch die Cancel Culture in der Fotoöffentlichkeit geführt wird. Mich irritiert allerdings, dass es solche Diskussionen in der Fotoszene erst jetzt gibt, verglichen mit anderen Kunst- und Kulturbereichen ist das sehr spät. Manche Diskussionen haben in der Fotoszene noch gar nicht begonnen. So hat etwa Jörg Colbergs Artikel „Die Welt der Macho-Fotografie“ in der Zeitschrift Monopol vom 22.09.2018 (www.monopol-magazin.de/die-welt-der-macho-fotografie) keine nennenswerte Resonanz in der Foto- und Kulturszene gefunden, dabei gäbe es doch genug Steine des Anstoßes. In Berlin wäre zum Beispiel das Newton-Museum zu nennen: Nicht das newtonsche Frauenbild stört, sondern die mangelnde fotografische Qualität. Newtons Fotos gehören in die Newton Bar und nicht in ein Museum im Hause der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
fotokritik.de:
Erstaunt es dich, dass die Fotoszene bei aktuellen Themen so spät reagiert?
Thomas Leuner:
Eigentlich nicht. Verfolgt man die Kommunikation der meisten ProtagonistInnen der deutschsprachigen Fotoszene in den sozialen Medien, spürt man deutlich einen sehr konservativen Geist, der sich durch die wachsende Popularität der Fotografie verstärkt hat. Klaus Honnef formuliert es in seinem Artikel treffend: „In den letzten 50 Jahren hat sich nicht allein in der Kunst nahezu alles verändert. Der westliche Kunstbegriff büßte seine ausschließende Geltung ein und hinterlässt ein intellektuelles Vakuum. Doch vor dem Hintergrund einer schleichenden Unsicherheit im Westen, durch gewaltige Herausforderungen für die Zukunft erzeugt, bricht namentlich unter der jungen akademischen Elite ein Furor auf, der spätmittelalterliche Züge verrät. Statt die vielen westlichen Errungenschaften in ihrem eigenen Sinne auszubauen und gegebenenfalls zu korrigieren, empfinden sie ihretwegen Scham und ein schlechtes Gewissen.“
Hinzu kommt, dass die Fotografie als Teil des Kunstgewerbes Eingang in die Museen gefunden hat und dabei der Schnittpunkt zur bildenden Kunst verloren gegangen ist. Sehr beeindruckend finde ich, dass sich die Fotografie als Unterhaltungskunst etablieren konnte, sichtbar zum Beispiel am Ausstellungshaus C/O Berlin, das auch den Nerv eines jungen Berliner Publikums trifft.
Künstlerisch betrachtet, sehe ich die Entwicklung eher zwiespältig. Ein wichtiger Teil der medialen Möglichkeiten ist verlustig gegangen: der Fotoapparat als Instrument der Aufklärung. Er liefert nicht nur digitales Bild- oder Scanmaterial, sondern ist auch subjektives Bildforschungsinstrument zur Aneignung der Wirklichkeit, und zwar im ganz naiven Sinne: Was ist auf einem nicht durch Software veränderten Foto aufgezeichnet? Wie kann ich diese Aufzeichnung nutzen für die Erkennung der Wirklichkeit, für die Erweiterung meiner eigenen Wahrnehmung und für meine Mitteilung an die Welt?
Die FotografInnen sollten wegen dieser Nähe zur Realität mit dem Fotoapparat politisch fortschrittlich sein und die Nase im gesellschaftlichen Wind haben. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Es geht darum, mit großem handwerklichem Geschick alle Spuren der Realität zu verwischen und eine Fantasiewelt herzustellen. Die Künste aber, die mit Fantasie arbeiten, wie Theater, Literatur, Comic und Film, sind näher an der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion als die Fotografie. Eigentlich ein Paradox.
fotokritik.de:
Honnef bezeichnet Drews Foto „Falling Man“ als „eines der bestürzenden Bilder vom Angriff auf Manhattans Zwillingstürme“. Ist es wirklich ein Bild über die „dunklen Seiten der Moderne“, das aufklärerische Wirkung haben soll?
Thomas Leuner:
Nein, das Foto „Falling Man“ ist Illustrationsjournalismus in Perfektion: hochästhetisch, fotografisch extrem kalkuliert, glatt und unpersönlich auf einen Effekt hin konstruiert. Im Hinblick auf das Ereignis 9/11 – insgesamt starben fast 3.000 Menschen (über 300 Tote, die vom Tower herabgestürzt sind) – ist es eigentlich ein zynisches Bild ohne jegliche Trauerdimension.
fotokritik.de:
Die Debatten über solche Fotos finden international statt. Dieser Idee folgend, könnte Cancel Culture als eine Frucht der globalen Vernetzung angesehen werden, in der vor allem die sozialen Medien zu einem intensiven Austausch, aber vielleicht auch zu einer gesteigerten Sensibilität führen.
Thomas Leuner
Ich glaube, die Cancel-Culture-Debatte hat ihren Höhepunkt überschritten. Jedoch finde ich wichtig, dass man bei dieser Diskussion die geänderte politische und kulturelle Situation im Auge behält. In den letzten Dekaden sind Kunst und Kultur als Ersatzraum für gesellschaftspolitische Kontroversen und Visionen genutzt worden, unter anderem als Folge des politischen Populismus und der Schwächung der demokratischen Staatsideen. Die Atmosphäre in der Kunst- und Kulturszene ist daher aufgeheizt, besonders durch die Erweiterung des Resonanzraums durch die sozialen Medien. Hier gibt es deutliche Indizien der Überforderung. Ich vermute, die Politisierung wird bleiben, vielleicht ist das aber auch eine gute Aussicht.
Korrektur
Katja Furthmann
26.07.2021
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