Vor fast 50 Jahren fand in Rostock ein Treffen von Vertretern von Ostseeanrainerstaaten statt. Aus Norwegen, Dänemark, Schweden, Finnland, der Sowjetunion, aus Polen und aus der DDR, aber auch aus der BRD (sowie aus Island!), reisten Delegationen zur Ostseewoche 1959 an. Die Ostseewoche Rostock war als eine Art Gegengewicht zur Kieler Woche konzipiert; sie fand erstmals 1958 und letztmals 1975 statt.
Zur Erinnerung an die zweite Ausgabe dieses Kultur- und Sportfestivals erschien 1960 ein bemerkenswertes Buch mit dem poetischen Titel „Sieben stolze, wundervolle Schwestern küsst das eine Meer“ im Rostocker Hinstorff-Verlag. Die Poesie des Titels lässt bereits die harten politischen Realitäten durchscheinen: unter den sieben wundervollen Schwestern ist nur eine deutsche dabei, und zwar die mit Hammer und Zirkel in der Flagge. Auf dem Schutzumschlag werden sieben Nationalflaggen gezeigt, die schwarzrotgoldene ohne Emblem fehlt, ist aber auf Seite 124 zu sehen, wo sie in einem Festzug mitgeführt wurde. Denn es waren auch Gäste aus Westdeutschland zugegen, als Einzelpersonen selbstverständlich liebe, nette Leute, nur schade, dass sie im falschen Deutschland lebten. Wolfgang Böhme, der Textautor, ließ einen (erfundenen?) Journalisten aus Hannover auftreten, um die Gegenwart der Westdeutschen im Rostocker Jugendlager in lockerem Tonfall zu erklären. Ein namenloser Hamburger Elektroschweißer lobt Organisation und Verpflegung und hat nur ein paar kritische Worte für die Musik: „Nur Rock´n Roll ist verpönt. Schade! Ist doch nichts dabei! Zwar hat ihn uns niemand verboten, aber den Jungen und Mädchen aus Finnland vor allem gefällt er nicht“ (S.55). Und zur politischen Lage sagt der Hamburger Gast: „Ehe wir fuhren, hatten sie uns gesagt: Geht um Gottes Willen nicht nach drüben, da verhaften sie euch. So ein Quatsch! Natürlich gefällt uns manches nicht, aber das sagen wir laut und deutlich, und es hat schon viele Diskussionen gegeben…“ Weltbild und Story des Journalisten sei ins Wanken geraten; ob er den Namen des Hamburgers nennen dürfe: „Dann einstimmige Ablehnung. Es könnte Schwierigkeiten geben…“ (S.56). Der westdeutsche Gast habe aber doch viel gelernt, zum Beispiel, dass es in der DDR keine Wehrpflicht gebe - er könne aber leider im nächsten Jahr nicht wiederkommen, denn dann werde er ja zur Bundeswehr eingezogen (S.56). Auf einer Kundgebung wurde Walter Ulbricht deutlicher: „Besorgnis und Empörung, aber auch Entschlossenheit spiegelte sich auf den Gesichtern wider, als er [= Ulbricht] von der Bedrohung der Ostsee durch die militärischen Kreise Westdeutschlands sprach“ (S.31). Die Richtung der Texte im Buch ist also eindeutig - manifestiert sich dies auch in den Bildern und in der Gestaltung?
Das Buch ist folgendermaßen gegliedert: Nach einem mit kleinen Wogenfotos bedruckten Vorsatz und der Titelei, für die das Meeresmotiv fortgesetzt wird, folgt die leere Seite 4, der eine ganzseitige stimmungsvolle Gegenlichtaufnahme des Meeres gegenübersteht. Dann ein Gedicht, nochmals ein Brandungsbild auf Seite 8 und dann beginnt das zweite Kapitel mit einem ersten Stimmungsbericht über die Ostseewoche. Das schöne, alte Rostock wird vorgestellt, Altstadtflair mit dekorativen Giebeln, davor parken moderne Reisebusse. Man reist an, willkommen! Fahnen werden aufgehängt, die Stadt zeigt sich von der besten Seite. Höhepunkt des zweiten Kapitels sind zwei Doppelseiten der Eröffnungskundgebung. Weitere Kapitel behandeln das internationale Miteinander, die Rostocker Wirtschaft (Hafen, Werften), das Jugendlager und die zugehörigen Aktivitäten, das Kulturprogramm, die Regatta, das Sportfest, Völkerfreundschaft und Gewerbeausstellung, die Abreise per Schiff. Ganz am Schluss gibt es noch eine nach Tagen geordnete Programmübersicht.
Die nicht einzeln nachgewiesenen Schwarzweißfotos stammten (laut Impressum) von Gisela Pätsch, Gerhard Vetter und Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Das Layout besorgte Heinz Bormann. Im Zusammenspiel aus Fotos und Gestaltung liegt der Reiz und die hohe Qualität des Buches. Die Bildtexte wurden in gut leserlicher Schreibschrift und in einem dezenten, hellen Grauton ungerastert als Sonderfarbe gedruckt. Die souveräne Beherrschung der Flächen und der Einsatz von weißen Räumen auf den Doppelseiten verblüfft. Nicht nur thematisch liegt ein Vergleich mit Arvid Gutschows „See, Sand, Sonne“ aus dem Jahr 1930 (Gebrüder Enoch Verlag, Hamburg) sehr nahe, ein Buch, in dessen Bildteil die geraden Seiten immer leer blieben, während auf den ungeraden Seiten immer ein Bild steht, aber nie an der gleichen Stelle und nie in der gleichen Größe, sondern je nach Motiv immer so, dass perfekte harmonierende Doppelseiten entstanden. Sicherlich kämen auch holländische Fotobücher der 1950er-Jahre als Vergleichsobjekte in Frage.
Heinz Bormann arbeitete neben der inhaltlich gewichtenden Gestaltung durch die Verteilung der Motive noch mit einem zweiten Stilmittel, der Wiederholung von Bildern und Bildausschnitten. Auf Seite 40 und 41 taucht ein und derselbe Werftarbeiter einmal im Gespräch auf, das andere Mal im engeren Ausschnitt und in die entgegengesetzte Richtung blickend. Es handelt sich in beiden Fällen um ein und dasselbe Foto! Der Fotograf mit der zweiäugigen Spiegelreflex wird auf den Seiten 58, 60 und 61 insgesamt vier Mal gezeigt, immer in anderen Ausschnitten von einem einzigen Negativ. Auch sein Motiv auf Seite 58, ein lesendes Pärchen in Rückenansicht, wird einzeln gezeigt, sodass diese Seite durch Wiederholung und Dekonstruktion eine Verdichtung der Aussage erreicht (freundliche jungen Menschen waren da, es wurden Erinnerungen fotografisch festgehalten). Das Fotografenbild auf den Seiten 60 und 61 ist mit zwei entzückenden Rücken bei einem Bootsausflug und mit einem Strandstillleben kombiniert. Andere Beispiele: Der Rock´n Roller von Seite 66 wird nicht nur gekontert, sondern kehrt auch auf den Seiten 69 und 70 wieder, der Mann am Scheinwerfer von Seite 71 zweimal auf Seite 73. Diese Art der Montage erinnert an einen Film, in dem mit Schnitt und Gegenschnitt Räume und zeitliche Abfolgen hergestellt werden. Bormanns luftiges Layout schafft Leben und Leichtigkeit; die Wiederholungen werden im Sinne einer filmischen Montage eingesetzt. Das Buch und sein Layout transportiert auf diese Weise genau das, was der Text als den Geist der Rostocker Ostseewoche 1959 beschreibt, nämlich eine lebendige, quirlige Atmosphäre des friedlichen Miteinander. Die Fotos hatten sich ganz den Wünschen des Layouters unterzuordnen. Es gibt einige an der Bauhausmoderne orientierte Aufnahmen, wie die des Bauarbeiters auf Seite 52, oder surreale Szenerien wie die Reihung der abgestellten Blasinstrumente auf Seite 105, der Riesenball auf Seite 107 und der schwebende Traktor auf Seite 129, doch überwiegt eine eher konventionelle, wenn auch moderne Bildsprache. Erst die Zusammfassung der Fotos im Layout des Buches machte aus irgendwelchen Einzelaufnahmen einen Film zum Blättern, der auch ohne Lektüre der streng auf Linie geschriebenen Texte funktioniert. Rostock war schön, friedlich, Rostock hat viel aufgebaut, hat viel geleistet, weiter so! Die DDR zeigte sich von ihrer besten Seite: modern, weltoffen, tolerant, friedliebend. Ein konventionell gestaltetes Buch wäre kontraproduktiv gewesen.
Maßgebliche Anteil an der Qualität des repräsentativen Bildbandes hatte der Grafiker Heinz Bormann (1926-1974), von dem es mindestens zwei weitere sehr ungewöhnliche, unter maßgeblichem Einsatz von Fotos gestaltete Bücher gibt: „Kleopatra das kluge Kind“ (1960) und „Jeder Tag war schön“ (1966). Der Titel des Kleopatra-Buches führt in die Irre; es handelt sich weder um ein Kinder- noch um ein Geschichtsbuch. Heinz Kahlow hatte in Begleitung des Fotografen Arno Fischer eine Reise durch die DDR unternommen und dazu einen mehr oder weniger ironischen Bericht geschrieben; mit Ausnahme der ganzseitigen Bilder, die die Kapitel jeweils eröffnen, sind Fischers locker einmontierte Fotos dem Text untergeordnet. Das andere Buch ist im Stil eines Tagebuchs sehr aufwändig mit eingeklebten „Souvenirs“, handschriftlichen Passagen, farbigen Abbildungen und einem Einband aus grober Jute ausgestattet. Thema ist eine Schiffsreise von Antwerpen nach Indien, ein für Bürger der DDR seinerzeit kaum realisierbarer Traum.
Bormann sorgte auch für den Einbandentwurf (vielleicht auch für das Layout) des Büchleins, das zur Erinnerung an die Ostseewoche 1960 erschien. Dieser Band hat nur noch das Format eines Taschenbuches. Die enthaltenen Fotos besitzen durchgehend eine hohe gestalterische Qualität; auf jeder Seite findet sich aber nur ein einziges Bild. Dafür sind die Doppelseiten mit einem sicheren Gespür für die Gesamtwirkung der beiden Nachbarbilder zusammengestellt. Der erste, von Gerhard Vetter, Lothar Reher und anderen Fotografen gelieferte Bilderblock bringt landschaftliche und architektonische Aufnahmen aus den teilnehmenden Ostseeanrainerstaaten (im Hamburger Hafen liegt natürlich ein amerikanisches Kriegsschiff…), dann folgt der von Wolfgang Böhme stammende Text, abschließend dann der zweite Bilderblock mit Impressionen von der Rostocker Veranstaltung. Diese Fotos wurden ausschließlich von Gisela Pätsch aufgenommen; damit waren praktisch alle an dem Buch über die „Sieben wundervolle Schwestern“ beteiligten Autoren erneut an der publizistischen Aufbereitung der Ostseewoche beteiligt. Die Großzügigkeit und die Leichtigkeit der „Sieben Schwestern“ jedoch war dahin - warum das so war, ob finanzielle oder politische Gründe im Jahr des Mauerbaus eine Rolle spielten -, darüber kann nur spekuliert werden.
Thomas Wiegand
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Bibliographische Daten zu den genannten Büchern, die unter Mitwirkung von Heinz Bormann entstanden:
Wolfgang Böhme, Sieben stolze, wundervolle Schwestern küsst das eine Meer, Fotos Gerhard Vetter, Gisela Pätsch und Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Gestaltung Heinz Bormann, VEB Hinstorff Verlag Rostock 1960, 160 Seiten, ca. 21,5 x 27,5 cm, Buchdruck, Kunstdruckpapier, Einband: bedrucktes rotes Leinen, farbig illustrierter Schutzumschlag
Wolfgang Böhme, Wo die Ostseewellen…, Fotos von Gerhard Vetter, Lothar Reher, Gisela Pätsch und anderen, Einbandentwurf Heinz Bormann, VEB Hinstorff Verlag Rostock 1961, ca. 12,5 x 19,5 cm, 120 Seiten, Buchdruck, Kunstdruckpapier, Einband: Hardcover mit Folienkaschierung
Heinz Kahlow, Kleopatra des kluge Kind, Fotos Arno Fischer, Gestaltung Heinz Bormann, Verlag Das neue Berlin 1960, ca. 17 x 23 cm, 208 Seiten, Buchdruck, Einband: farbig illustriert, Hardcover mit Folienkaschierung
Annelie Thorndike, Jeder Tag war schön, Fotos Andrew Thorndike, Gestaltung Heinz Bormann, VEB Hinstorff Verlag Rostock 1966, 312 Seiten, ca. 20 x 24 cm, Einband: Hardcover mit Überzug aus grobem Jutegewebe
Nachtrag – weitere fotoillustrierte Bücher, die von Heinz Bormann gestaltet wurden
Konrad Reich (Hg.), Ostseeland, VEB Hinstorff Verlag Rostock 1960 (Text Fritz Meyer-Scharffenberg, Gestaltung Heinz Bormann, Fotos Gisela Pätsch, Gerhard Vetter und andere) und Vorläuferpublikationen 1958 und 1959 sowie eine Neuausgabe 1962, alle von Bormann gestaltet (siehe Deutschland im Fotobuch, 2011, Anm. 309) (Hinweis von Bernd Kamer)
Gerhard Heyde (Fotos), Konrad Reich (Texte), Bilder aus Finnland, hg. v. Rat des Bezirkes Rostock, VEB Hinstorff Verlag Rostock 1959 (Ostsee – Meer des Friedens, 1), Gestaltung Heinz Bormann, Bildband über Finnland – die Länderreihe „Ostsee – Meer des Friedens“ wurde nicht fortgesetzt (1960 erschien ein Bildband unter diesem Titel im Verlag der Nation, Berlin, dieser wurde aber nicht von Bormann gestaltet)
Albert Donle, Totalschaden. Kuriosa aus der motorisierten Welt. Gestaltung Heinz Bormann, Eulenspiegel Verlag Berlin 1966, ca. 12 x 17 cm, Einband: farbig illustriertes Hardcover, Inhalt: eine Sammlung leicht abgestandener Autofahrer-Anektoden, illustriert mit wunderbaren Fotomontagen von Bormann! (Hinweis von Jim Reed)