Lee Friedlander: "Witness Number 6"
Der Band Nummer 6 aus der Reihe Witness von Nazraeli / JGS ist einem Künstler gewidmet, den die meisten nicht kennen dürften, Raoul Hague. Witness ist als Publikation zwischen Magazin und Buch angesiedelt, und wird von jeweils einem Fotografen gestaltet. Diese Ausgabe enthält 157 Fotografien Lee Friedlanders, von 1966 bis 1990, Porträts des Skulpteurs und seiner Skulpturen, und die Bilder sprechen von der Intensität der Auseinandersetzung Friedlanders mit dem Freund und Künstler Hague (darüber schreibt im Nachwort wunderbar Maria Friedlander). In dessen Haus und Studio tobt sich Friedlander geradezu aus: jeder Winkel, die Geräte und Gegenstände, die gesammelten Fotografien an den Wänden, der Besitz und der Mensch werden in vor Plastizität zitternde Bilder transformiert. Die Gabe Friedlanders, seinen Tanz zu tanzen und uns gleichzeitig am Leben eines Menschen teilhaben zu lassen, seine erregende und nie versiegende Technik der Komposition sind hier noch einmal reichhaltig dokumentiert. Natürlich ist Friedlander mittlerweile ein Klassiker, aber durch die Beschränkung des Sujets lassen sich seine Qualitäten noch genauer studieren. Maria zitiert ihren Mann mit den schönen Worten zur Aufgabe der Fotografie: „To bring you a part of the world you wanted to know about as well as emphasize what you already knew“.
Coleccíon Anna Gamazo De Abelló: "Fotografía Latinoamerikana," A selection (1895 – 2008)
Neben den Publikationen von Erika Billeter und dem Noorderlicht -Katalog aus dem Jahr 2002 sind mir nicht allzu viele Bücher zum Thema lateinamerikanische Fotografie bekannt. Wenn man Gerüchten trauen darf, wird sich das dieses Jahr ändern (Martin Parr kompiliert eine Geschichte des Fotobuches dieser Länder), und die Anfänge eines Trendes zeigen sich bereits. Das RM in Mexico zeigte letztes Jahr die Sammlung von Frau Gamazo de Abelló, mit 87 Fotografen. Alexis Fabry aus Paris, der die Sammlerin betreut, hat zusammen mit den Toluca Studios ein gut editiertes, auffällig gestaltetes und sorgsam bibliografiertes Buch gemacht. Nun umfasst die Sammlung alle möglichen Tendenzen der Fotografie, zwischen Sergio Larrain und Pablo Lopez: Porträtfotografien aus Studios, Journalismus, Subjektive und konstruktive Fotografie, etc. und so sieht man zuerst die hervorragend informierte Hand der Sammler (und damit die Anklänge an bereits bekannte fotografische Ausdrucksweisen aus dem „Kanon“) und dann erst den schwer verständlichen Reichtum einer Welt, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert.
Adam Bartos: "Yard Sale Photographs"
Adam Bartos gehört bereits zur zweiten Generation der New Color Photography, etwa neben Mitch Epstein oder Mark Cohen (Sally Eauclaire), und man darf, wenn man dieses Buch sieht, nicht an einen dreißigjährigen Epigonen denken. Vielmehr arbeitet hier ein Fotograf mit traumwandlerischer Sicherheit in der Zone amerikanischer Befindlichkeit, zwischen Massenkultur, Konsum und Geschichte, irgendwo an den Rändern des bürgerlichen Milieus. Zwischen obvious & ordinary gibt es sie noch, die Fotografen, die den Gegenständen und ihrer Geschichte und ihren Geschichten zuhören, und die am Ende des Buches notieren, mit welcher Kamera, welchem Objektiv und welchem Film sie gearbeitet haben. Wie dem auch sei, ich verfalle dem Grün einer Kunstleder-Tennisschläger-Tasche, dem blauen Umschlag eines Buches, dem Sonnenlicht, das eine Salatschleuder umspielt (und bin froh, dass ich die ganzen Trödelmärkte und Yard Sales nicht selber besuchen musste). Glücklicherweise hat Bartos die Gestaltung seines Buches anscheinend mitdefiniert, und so ist vom Cover bis zur Wahl des Papiers und der Kurzgeschichte von Raymond Carver alles stimmig.
Krass Clement: "Novemberrejse"
Obwohl Krass Clement bereits 17 Bücher veröffentlicht hat (viele davon beeindruckend, eines in Parr/Badger, Volume 2), ist er nicht gerade sehr bekannt. Seinen gefühlvollen schwarz-weiss Fotografien haftet etwas Altmodisches an, doch man sollte sich nicht täuschen lassen: Der sechzigjährige dänische Autodidakt operiert mit vielen unterschiedl-ichen Stilen und sein „favorite medium is the photobook“. Das Buch „Novemberrejse“ bricht die Melancholie mit einem stringenten Rhythmus. Man bleibt im unklaren, mit welchen Leuten man es zu tun hat, und in welchem Verhältnis der Fotograf zu den Menschen steht, die er auch in intimen Momenten fotografiert, und wo und wann er überhaupt fotografiert. Die ländliche Gegend, die Häuser mit den undurchdringlichen Fenstern, das Meer und der Nebel lassen keine Schlüsse zu. Und ähnlich wie bei einigen Reisen von Moriyama Daido bleibt offen, was die Reise antreibt, die Spurensuche nach Erinnerungen oder Sehnsucht und Freiheitswille, und den Begegnungen mit Menschen ist nicht abzulesen, ob es sich um Zufälle oder Familie handelt. Immer aber blicken diese Menschen den Fotografen offen und beinahe herausfordernd an, als wollten sie sagen „deine Einsamkeit und Melancholie sind selbstgewählt“. Seine Gestalt und seinen Rhythmus erhält das Buch aus dem wiederkehrenden Motiv des Bilckes aus dem Busfenster, den Begegnungen und dem Verweilen an leeren Orten.
Gerry Johansson: "Ulan Bator"
Bei der im letzten Jahr in Stockholm gegründeten GUN Gallery ist das neue Buch von Gerry Johansson erschienen, Ulan Bator, nach der mongolischen Hauptstadt, die der Fotograf Herbst/Winter 2008 besuchte. Es folgt dem schlichten Design seiner beiden Vorgänger, „Amerika“ und „Sverige“. In Leinen gebunden, beinahe ohne Text, mit schwarz-weissen Fotografien, die großzügig auf dem weissen Hintergrund der Seiten gesetzt sind, so unterstützt die Gestaltung den konzentrierten Blick auf die Bilder selbst. Man sieht bei Johansson immer wieder Gebäude, Plätze, Straßen, nicht notwendigerweise ohne Menschen, dann erkennt man die Genauigkeit seines topografischen Blickes, und sein Interesse an Materialen (wieviele Sorten Stein und Beton es gibt!) und Licht. Ulan Bator ist als Stadt aus einer Nomadensiedlung hervorgegangen und ein deutliches Thema vieler Bilder sind Grenzen und Markierungen in Form von Zäunen, Bepflanzungen oder Statuen. Sie dienen dem Fotografen als formales Mittel, helfen aber auch die Form einer fremden Stadt zu verstehen. Man kann diese Bilder nicht eindeutig streng, sachlich oder ästhetisch nennen, sie sind jedenfalls an die Messlatte Robert Adams angelegt, und an dessen Fähigkeit und Willen, sich einem Ort ganz ausszusetzen.
Patrick Faigenbaum: "Santulussurgiu"
Eine Gemeinde auf Sardinien und ihre Bewohner sind der Gegenstand dieses Buches. Der Fotograf besucht sie seit langem, hat Familie dort, und man spürt seine Vertrautheit. Die gut 115 Bilder in diesem Band weiden sich jedoch nie an dieser Familiarität (ähnlich wie bei Craigie Horsfield oder Jeff Wall), der intime Moment des Porträts wird durch komplexe Strategien mit Distanz aufgeladen, eine Technik, die an die Malerei erinnnert. Das könnte bemüht wirken, aber interessanterweise ist das Buch vielmehr das Dokument einer offenen, gefühlvollen und sinnlichen, intelligenten und diskreten Auseinandersetzung mit diesem Ort. Wie bei „Tulle“ (das vor 2 Jahren bei Le Point du Jour erschien), und das für mich ein Vorbild für alle Bücher ist, die eine Stadt zum Thema haben, kombiniert Faigenbaum sehr unterschiedliche Stile, zu einem unangestrengten Buch über das Leben in einer bestimmenten Stadt. Die Festlichkeiten, die Vegetation, das Arbeiten und das Spiel, die Bewohner und die Beschaffenheit der Straßen, neben natures mortes von Früchten, in verschiedenen Formaten, in schwarz-weiss und in Farbe, das macht ein wunderschönes Buch aus.
Verena Loewenhaupt:"CU Tokyo"
Die Bilder in diesem Buch sprechen von Zeit und Dauer. Dem liegt eine auch erzwungene Auseinandersetzung der Fotografin mit ihrer Krankheit zugrunde, die nur indirekt thematisiert wird. Anders als viele gehetzte, inszenierte oder dramatisierte Bilder, die heutzutage um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren, folgt Verena Loewenhaupt einer „stillen“ und direkten dokumentarischen Schule, um das Gebäude und ihre Mitpatienten zu fotografieren, die Klinik, in der sie gezwungen ist, sich aufzuhalten. Der Bilck aus dem Fenster, ein altes Bild für Hoffnung und Zukunft, ist hier trostlos, das Gebäude und seine Einrichtung sind abweisend und wirken nicht so, als wollte man dort auch nur eine Stunde der eigenen Lebenszeit verbringen. Aber aus der Dauer der Aufenthalts erwachsen die Fotografien, und in ihnen erkennt man einen Widerspruchsgeist und ein intensives Bemühen, sich in den Umständen zurechtzufinden, wenn nicht sie zu akzeptieren. Demgegenübergestellt sind, auf Pergamentpapier gedruckt, farbenfrohe Aufnahmen der Kirschblüte in Tokyo, die ganz traditionell, Neuanfang und Leben, Zyklus und Entwicklung symbolisieren. Das Buch kann diese beiden Seiten des Lebens zusammenführen und gegenüberstellen, aber nicht zu einem harmonischen Ganzen vereinen. Verena Loewenhaupt ist meine Kollegin und eine Freundin, und ich freue mich, dass sie sich gegen eine harmonisierende Lösung, zugunsten einer schwierigen, ehrlichen und überzeugenden entschieden hat.