„Deutschland im Fotobuch“ - Ein Gespräch mit Thomas Wiegand, dem Autor der von Manfred Heiting im Steidl Verlag 2011 herausgegebenen gleichnamigen Monografie
von Thomas Leuner
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Nach Martin Parrs und Gerry Badgers „The photobook: a history“ (zwei Bände, 2004 und 2006) reichen Sie nun „das deutsche Fotobuch“ nach. In der Ankündigung bei Steidl heißt es: „Vermutlich wird man die Frage nach dem typischen deutschen Fotobuch nach der Lektüre des Buches nie abschließend beantworten können.“ Ist das wie gehabt nur eine Bücherliste für den Einkaufszettel der Fotobuchsammler? Oder hatten Sie ein anspruchsvolleres Konzept als Parr/Badger?
Thomas Wiegand
Das Thema ist Deutschland, es geht nicht um irgendwelche deutsche Fotobücher. Das bedeutet, dass beispielsweise „Die Welt ist schön“ von Albert Renger-Patzsch nicht enthalten sein wird, dafür aber ein japanisches Buch namens „The German Soul“ mit Fotos von Enver Hirsch zum Thema Gartenzwerge. Das Buch tritt erst einmal nicht als Werk der Kunst- oder Mediengeschichte auf, sondern speist sich aus der Kraft der ausgewählten Bilder. Dies adäquat in das Layout umgesetzt zu haben, ist das Verdienst von Manfred Heiting. Das Ganze ist als eine Art Ausstellung in Buchform angelegt, die zuerst visuell argumentiert und beim zweiten Blick dann auch mit den Texten.
Ich habe jedem Kapitel eine kurze, ziemlich verdichtete Vorstellung entsprechender Fotobücher aus den letzten knapp 100 Jahren vorangestellt.
Die Hauptarbeit für uns war, Bücher zu sichten und auszuwählen. Es mussten Kriterien gebildet werden, die die Frage, was überhaupt ein Fotobuch sein kann, beantworten helfen. Im Laufe der Jahre trennte sich die Spreu vom Weizen, und die Auswahl wurde sicherer.
Um zu Ihrer Frage nach dem Einkaufszettel zurückzukommen: Man wird die Verwendung eines Buches über Bücher als Einkaufszettel nicht verhindern können. Uns hat die Frage, ob ein Buch selten und wertvoll ist oder nicht, bei der Auswahl nicht interessiert. Es gibt Titel darunter, die 2,50 Euro kosten und solche, die man auch für 2500 Euro nicht bekommt. Das Buch bildet nicht eine konkrete Sammlung ab, sondern ist allein eine Antwort auf die Frage, wie Deutschland in Fotobüchern dargestellt wurde.
Es werden alle relevanten Daten zu den Büchern genannt, was sowohl die Sammler als auch die Wissenschaftler interessieren dürfte. Wussten Sie, dass es Richard Peters Buch „Dresden – Eine Kamera klagt an“ (1950) auch in Leinen, mit zwei verschiedenen Schutzumschlägen und einer Bauchbinde gab? Das wirft Fragen nach dem Warum auf, obwohl das sattsam bekannte Buch zu den immer wieder herangezogenen Ikonen der Trümmerfotografie gehört. Um es vorwegzunehmen: wir können zu diesen Varianten auch keine Erklärung geben, aber sie zumindest als existent bekannt machen. Das sehe ich als eine wesentliche Aufgabe unseres Buches, das eine Art Materialsammlung ist, die zu einer näheren Auseinandersetzung mit der Materie einladen soll.
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Aber vielleicht noch mal zu den grundsätzlichen Fragen. Das Genre des Fotobuches über Fotobücher ist ja noch sehr jung. Letztendlich sind darin mit entsprechenden einleitenden Texten ausgewählte Seiten verschiedener Fotobücher als Faksimile abgedruckt. Sich diese historischen Bücher mit ein paar ausgewählten Seiten anzusehen, hat sicherlich seinen Reiz und weckt Interesse an den Publikationen der jeweiligen Zeit.
Die Frage ist aber, ob diese Abdrucke darüber hinaus noch einen Informationswert besitzen und sich bei der Lektüre weitere kulturelle oder politische Einsichten einstellen. Etwas zugespitzt: Was kann man mit „Buchhäppchen“ anfangen? Mit wie vielen Faksimileseiten pro Buch beginnt ein Erkenntnisprozess? Oder vertraut man letztendlich doch nur auf den Text?
Thomas Wiegand
Das sind jetzt viele Fragen in einer. Ob die Reproduktionen einen Informationswert besitzen? Ja, sie sollten charakteristisch oder repräsentativ sein für das vorgestellte Buch, können aber selbstverständlich dieses nicht ersetzen. Wie schon gesagt, das Ganze sollte als eine Art Ausstellung in Buchform inszeniert sein, in der die reproduzierten Seiten die Exponate sind. Dabei kommt es m.E. nicht auf die Menge an Faksimiles an, sondern allein auf deren Auswahl, was auch bei anderen Büchern dieses Typs das Entscheidende ist. Die „Buchhäppchen“ werden von den bibliografischen Angaben und möglichst sachlich informierenden Texten begleitet, damit das gezeigte Buch einerseits auffindbar ist und andererseits eingeordnet werden kann. Die Textmenge in unserem Buch ist allerdings insgesamt vergleichsweise gering, aber unverzichtbar.
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Neben der Form des Buches dürften sich auch viele inhaltliche Fragen stellen. Immerhin haben sich in den letzten Jahren schon Kriterien entwickelt, was ein Fotobuch ist und was nicht: Kataloge, „Best of“ usw. fallen weg. Wenn ich Sie richtig verstehe, soll „Deutschland im Fotobuch“ keine andere Fotogeschichte sein, in dem sich die deutsche Fotografie widerspiegelt. Vielmehr geht es Ihnen um die Darstellung deutscher politischer und kultureller Befindlichkeiten, wie sie in Fotobüchern der letzten Jahrzehnte beschrieben und reflektiert wurden. Kann das Medium Fotobuch überhaupt solche Erkenntnisse leisten? Sind genügend qualifizierte Fotobücher über Deutschland erschienen?
Thomas Wiegand
Keine andere Fotogeschichte? Gibt es eine Geschichte der Fotografie in Deutschland für das 20. Jahrhundert überhaupt? Neulich waren in zwei Ausgaben der ehrwürdigen „Fotogeschichte“ Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Deutschland, Österreich und der Schweiz als Vorabdruck aus einem umfassenderen Werk enthalten (Fotogeschichte Nr. 113/2009 und Nr.117/2010). Der erste Teil zu Deutschland war eine herbe Enttäuschung, weil hier nur an der Oberfläche des allseits Bekannten gekratzt wurde, dies aber mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein. Der zweite Teil war um Klassen besser, behandelte aber im Wesentlichen nur die BRD; vielleicht wird die DDR ja noch in einem weiteren Teil nachgetragen.
Die Bücher von Derenthal und Glasenapp oder die einschlägigen Ausstellungskataloge handeln immer nur von einzelnen Aspekten oder Zeitabschnitten. Mag sein, dass ich etwas übersehen habe, aber mir fällt im Augenblick keine handhabbare Geschichte der Fotografie in Deutschland für die Jahre seit dem Ersten Weltkrieg ein.
Wir werden diese Lücke mit dem Fotobuch-Buch auch nicht schließen, aber für die künftigen Schreiber und Schreiberinnen wird es vielleicht mit dem gelegentlichen Blick in die Fotobücher etwas einfacher. Denn die von Ihnen angesprochenen Befindlichkeiten manifestieren sich in Büchern in genauso konzentrierter und nachvollziehbarer Form wie der gestalterische „Zeitgeist“. Die Bücher sind sozusagen Kinder ihrer Zeit, und wir haben uns bemüht, mit den Erscheinungsjahren der Werke möglichst nah an den Ereignissen zu bleiben.
Für die wichtigen Illustrierten der Nachkriegsjahre in Ost wie West hat Karin Hartewig jüngst eine materialreiche Arbeit vorgelegt, die allerdings mehr mit Texten als mit Bildern argumentiert („Wir sind im Bilde“, eine Geschichte der Deutschen in Fotos vom Kriegsende bis zur Entspannungspolitik, Leipzig 2010), aber genau auf das vielleicht von Ihnen Gesuchte abzielt. Die von Hartewig herangezogenen Reportagen dienen als Indikatoren für politische, gesellschaftliche oder kulturelle Entwicklungen im Land. Dazu gibt es auch Bücher, und die Frage, ob dazu tatsächlich genug „qualifizierte“ Fotobücher erschienen sind, kann ich nur mit „Ja“ beantworten. Andere Autoren werden das anders sehen und eine andere Auswahl bevorzugen.
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Ihre Untersuchung haben sie auf den Zeitraum von 1915 bis 2009 beschränkt, warum gerade 100 Jahre Fotobuch mit dem Thema Deutschland? Interessant dürfte auch sein, warum sie die Endphase des Kaiserreiches, also den Zeitraum von 1915 bis 1919 in ihre Untersuchung mit einbezogen haben. Denn landläufiger Meinung beginnt die moderne Fotografie erst in den zwanziger Jahren während der Zeit der Weimarer Republik.
Thomas Wiegand
Die Geschichte des Fotobuches beginnt natürlich auch in Deutschland früher. Nach der Etablierung von Drucktechniken, die höhere Auflagen bei guter Wiedergabequalität von Fotografien erlaubten (Autotypie für den Hochdruck, Kupfertiefdruck) gab es bald Bücher, die die Fotografie in den Mittelpunkt stellten wie die Reihe der „Blauen Bücher“, mit der wir auch beginnen – und zwar mit einer Anthologie aus dem Jahre 1915.
Die „richtigen“ Fotobücher als autonome Werke erscheinen etwa zehn Jahre später auf dem Markt. Die von Ihnen angesprochene frühe Zeit wird in „Deutschland im Fotobuch“ nur am Rande vorkommen; eine in jeder Beziehung detaillierte Auseinandersetzung mit der deutschen Fotobuchlandschaft zwischen den beiden Weltkriegen wird derzeit von Manfred Heiting und Roland Jaeger vorbereitet und wird diesen Sektor in ein ganz neues Licht stellen.
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Die Fotobücher, die sie gesichtet haben, umfassen eine Zeitspanne von großen kulturellen und politischen Umbrüchen. Dies betrifft nicht nur die ökonomische Situation zum Büchermachen, die künstlerische Auffassung über das Layout, sondern auch den Personenkreis, der im Bereich der Fotografie tätig war. Ich vermute, dass es in den einzelnen Phasen deutliche Unterschiede in der Qualität und Ausrichtung der Bücher gab. Wie lassen sich denn überblickshaft die einzelnen zeitlichen Abschnitte charakterisieren? Dabei denke ich an das ausgehende Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, die unmittelbare Nachkriegszeit und die zeitgenössische Fotografie ab 1970.
Thomas Wiegand
Neben der thematischen Beschränkung auf „Deutschland“, die man sicherlich kontrovers diskutieren könnte, haben wir von vornherein Werke ausgeschlossen, die in Auflagen unter 100 Exemplaren gedruckt wurden oder nicht gebunden vorliegen, also Mappenwerke. Abgesehen davon: Was mich selbst etwas überrascht hat, ist die Tatsache, dass die Ausrichtung auf das Thema Deutschland dazu führte, dass avantgardistisch fotografierte und gestaltete Bücher oder Künstlerbücher deutlich in der Minderzahl sind. Vielleicht waren die Avantgardisten mehr an medialen und konzeptionellen Fragen interessiert als sich auf ein konkretes Thema wie beispielsweise „Deutschland“ festzulegen.
Bauhausbücher sind oft Bücher, die das Sehen an sich thematisieren, das Fotografieren, das Gestalten, aber nicht Deutschland. Das Dritte Reich hat einen riesigen Aufwand für Bildpropaganda betrieben, zuweilen auch unter Weiterbeschäftigung von Avantgardisten der 20er-Jahre. Doch hinsichtlich ihrer aufwändigen Gestaltung mit russischen Werken der Stalinzeit vergleichbare Bücher sucht man vergeblich. Das gilt so ähnlich auch für die ersten, vom „großen Bruder“ UdSSR beeinflussten Jahre der DDR.
Um 1960 hatten deutsche Fotobücher aus Ost wie West eine in jeder Hinsicht sehr hohe Qualität von Konzeption, Narration, Bildern, Gestaltung, Druck erreicht. Diese Tendenz gilt auch für andere Länder. Um 1970 beginnt eine Phase der „Beruhigung“ der Layouts. Ein Bild pro Seite, oft bleibt die linke Seite leer. Seit den 60er-Jahren waren auch Raster sehr häufig. Die Druckqualität ließ nach, weil Kupfertiefdruck immer seltener angewandt wurde, und die Duplexverfahren für den Offsetdruck offenbar noch nicht so beherrscht wurden wie schon lange zuvor für den Buchdruck.
Diese gestalterische „Beruhigung“ der Fotobücher, die nichts mit einer nachlassenden Qualität der Fotos oder einer weniger durchdachten Abfolge im Buch zu tun hat, ist nicht nur in Deutschland zu bemerken, sondern auch in anderen Ländern (schön zu sehen im Buch über diesen Zeitraum in Japan: Ryuichi Kaneko/Ivan Vartanian, Japanese Photobooks of the 1960s and ´70s, New York 2009).
Die letzten Jahre haben, vielleicht durch das verstärkte Nachdenken über Bücher als Medium zur Präsentation von Fotos und das gewachsene Wissen darüber bei gleichzeitigem Aufkommen des Digitaldrucks, dazu geführt, dass die Zeit des Wechselspiels zwischen Bild-Leerseite-Bild-Leerseite… oder der strengen Raster zu Ende gegangen ist und variantenreichere Gestaltungen wieder vorkommen. Schwieriger zu beurteilen ist es, ob auch die behandelten Themen je nach Epoche wechseln, wiederkehren, und wenn ja, wie.
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Bei der Gliederung haben sie keine zeitliche Chronologie gewählt, sondern eine inhaltliche Gruppierung. Vorbild war auch nicht die klassische Fotogeschichte, die sich an der Entwicklung der handwerklichen und industriellen Fotografie orientiert und (vom) am klassischen Kanon: Porträt, Landschaft, Architektur, Akt usw. ausgeht. Sie gruppieren ihren Bildteil vielmehr unter Überschriften wie „Anthologien, Landschaften, Menschen, Zeitgeschehen, Grenzen, Typisch.“ Ergab sich diese Einteilung aus denen von Ihnen recherchierten und ausgewählten Büchern? Oder welches Konzept lag dieser Gliederung zugrunde?
Thomas Wiegand
Ja, die Gliederung ergab sich aus den angesehenen Büchern, die in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden mussten. In den Kapiteln haben wir dann eine jeweils grob chronologische Abfolge gewählt. Wir haben bewusst „Landschaften“ statt „Landschaft“ oder „Menschen“ statt „Porträt“ getitelt, weil uns dies im Sinne des Deutschland-Themas weiter gefasst und damit angemessener erschien, und, Sie haben recht, es nicht um klassische Fotografensujets ging. In allen Kapiteln gibt es übrigens keine Trennung nach Büchern aus DDR und BRD.
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Das Konzept von „Deutschland im Fotobuch“ hat bisher keine Vorbilder. Darum würde ich gerne noch weiter nach den gedanklichen Hintergründen fragen. Der Titel benutzt zwei Begriffe: „Deutschland“ und „Fotobuch“. Etwas populärer formuliert, geht es Ihnen um Deutschland im Spiegel des Fotobuches, wie sie das ja schon eingangs beschrieben hatten.
Die klassische Fragestellung der Fotogeschichte wäre gewesen, die deutsche Fotogeschichte neu aus der Sicht der erschienenen Fotobücher zu ergänzen. So projektiert z.B. die Schweizer Fotostiftung in Winterthur für 2012 eine Ausstellung (mit Monografie) unter dem Titel „eine andere Geschichte der Fotografie“, in der anhand von 70 Fotobüchern Schweizer Fotografen die Schweizer Fotogeschichte neu interpretiert werden soll.
Die Fragestellung hat Sie nicht interessiert. Ihr Erkenntnisinteresse ist eine Reflexion über Deutschland, und zwar doch wohl im Sinne der „cultural studies“? Um hier nochmals nachzuhaken, denn Ihre Aussage, es handele sich lediglich um eine Ausstellung in Buchformat mit Seiten aus historischen Fotobüchern, dürfte den inhaltlichen Kern des Projektes nicht ausreichend beschreiben.
Nun, wie ist denn die Sicht auf Deutschland, wie sie sich aus den von Ihnen ausgewählten Fotobüchern ergibt? Und, inwieweit weicht diese Sicht von den klassischen Vorstellungen über die deutsche (Kultur-)Geschichte ab?
Thomas Wiegand
Wie definieren Sie eine klassische Vorstellung zur deutschen Kulturgeschichte, und das in Bezug auf Fotobücher? Ich persönlich werde Ihnen dazu mit dem Buch keine elaborierte, hochglanzpolierte und allen Ansprüchen genügende, definitive Antwort geben können. Denn ich bin ganz pragmatisch vorgegangen.
Meine Sicht auf Deutschland, wie sie sich in dem Buch niedergeschlagen hat, ist insofern determiniert, als ich sowohl für historische Situationen wie Weimarer Republik, Holocaust, Wirtschaftswunder, Bau der Mauer, Terrorismus, Wiedervereinigung, als auch für geografische Aspekte im Hinblick auf Landschaftsbilder und Städteporträts oder für gesellschaftliche Phänomene nach Büchern geforscht habe, die aussagekräftig sind und zugleich als „Fotobücher“ bestimmten, in der Einleitung aufgeschlüsselten Kriterien genügten. Bei dem nötigen Auswahlprozess war ich nicht alleine, weil mir mit Hansgert Lambers und Manfred Heiting zwei erfahrene Kenner der Fotobuchszene zur Seite standen.
Zuweilen habe ich die Bücher nicht nur „gefunden“, sondern im Hinblick auf unterrepräsentiert erscheinende Themen gezielt gesucht, worin ich aber nicht immer erfolgreich war. So könnten Lücken entstanden sein, sei es, weil es – warum auch immer – dazu keine passenden Bücher gibt, weil ich diese nicht präsentabel fand oder weil mir entsprechende Werke schlicht unbekannt geblieben sind. Ich hoffe aber, dass mir Letzteres nicht so oft passiert ist.
Um noch einmal auf Ihre Frage nach der deutschen Fotogeschichte zurückzukommen: Ich habe jetzt, wo die Arbeit abgeschlossen ist, nicht den Eindruck, dass sich das Deutschland-Buch ausschließlich auf den Landes-Aspekt reduzieren lässt. Selbstverständlich kann man das Buch auch als Fotogeschichte lesen und Beispiele für die Neue Sachlichkeit, für Bildjournalismus oder Künstlerbücher oder aber Werke interessanter, bislang übersehener Fotografinnen und Fotografen darin finden. Aber diese Nähe zur Fotogeschichte war nicht gesucht. Für eine deutlichere fotogeschichtliche Ausrichtung hätte man andere Bücher, vor allem Ausstellungskataloge und Monografien, stärker berücksichtigen müssen.
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Mit dem Thema „Fotobuch“, also dem zweiten Begriff des Titels, haben sie sich schon seit Jahren wissenschaftlich und im Konkreten beim Fotobuchfestival in Kassel beschäftigt. Was ist die Besonderheit „historischer“ Fotobücher, die teilweise mehrere Jahrzehnte alt sind. Was für eine Magie strahlen sie aus? Ist es eine Zeitreise, da es sich um historische Dokumente handelt, die aber als Bilderbuch heute noch von jedem Betrachter gelesen und verstanden werden können? - Ein Phänomen, das man sonst nur beim Betrachten von alten Spiel- und Dokumentarfilmen erleben kann?
Thomas Wiegand
Die Magie der Fotobücher hat mit ihrer zeitgebundenen Unwiederholbarkeit zu tun. Drucktechniken sind ausgestorben, Papiersorten sind nicht mehr zu bekommen, die Sprache der Fotografie hat sich verändert, die Anordnung der einzelnen Fotos, Texte und sonstigen Bestandteile zu einem Buch war zu diesen Zeiten so und nicht anders. So wird aus einem Haufen von Bildern im besten Fall kein Bildband, sondern ein Fotobuch, das für seine Zeit eine bestimmte Qualität vermittelt. Man könnte diese vielleicht als Authentizität beschreiben, die bei Reprints und Nachdrucken schnell auf der Strecke bleibt.
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Abschließend wollte ich noch auf zwei auffällige Merkmale Ihrer Fotobuchauswahl zu sprechen kommen. Sie haben Kapitel wie „Arbeit“, „Menschen“ oder „Zeitgeschehen“ ausgewählt, Überschriften, die so keinen Platz im Zeitgeistigen haben. Das Thema „Arbeit“ ist sogar seit dem Fall der Mauer eine fotografische „No-go-Area“.
Entsprechen Ihre Themen mehr dem Hauch der deutschen Geschichte, wie sie sich in 100 Jahren Fotobüchern dargestellt haben? Ein modernes, global aufgestelltes Deutschland ist das nicht, wie es zum Beispiel die Becher-Schüler in ihren Arbeiten vorführen.
Thomas Wiegand
„Menschen“ als Überschrift fanden wir passender als „Porträts“, „Leute“, „Deutsche“ oder „Gesellschaft“, „Zeitgeschehen“ fanden wir besser als „Geschichte“ oder „Ereignisse“. Dass das Thema „Arbeit“ eine „No-go-Area“ sein soll, habe ich in der Kasseler Provinz nicht mitbekommen; im Gegenteil, ich habe in Erinnerung, dass das Thema (im globalen Kontext) auf den letzten "documenta"-Ausstellungen immer wieder aufgegriffen wurde.
Knapp 100 Jahre Fotobuchgeschichte bedeutet für mich, dass der damalige Zeitgeist aus den vorgestellten Büchern sprechen sollte. Ich fordere das geradezu, habe Bücher bevorzugt, die zu Lebzeiten und unter Beteiligung des Fotografen zeitnah zur behandelten Thematik erschienen (wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel).
Was die Becher-Schule anbelangt, stimme ich Ihnen vorbehaltlos zu. Das ist alles international gedacht, so wie es das Ehepaar Becher vorgemacht hat. Die Fördertürme gab es eben nicht nur im Ruhrgebiet, sondern auch in Lothringen oder in den USA. Ich habe deshalb von den Bechers zwei Bücher ausgewählt, die motivisch Deutschland nicht verlassen. Und die Becher-Schüler sind genau aus dem Grund ihrer globalisierten Ausrichtung praktisch nicht vertreten. Außerdem sind ihre Bücher eher Kunstkataloge als Fotobücher wie ich sie verstehe. „Deutschland im Fotobuch“ ist eben kein Buch über deutsche Fotobücher oder über Bücher deutscher Fotografen; da hätte man selbstverständlich die „Struffkys“ nicht außen vor lassen dürfen.
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Daran anknüpfend fällt auf, dass Sie keinerlei Bedenken haben, auch offensichtliche Propagandabücher in Ihre Auswahl mit einzubeziehen und die unterschiedlichsten Welten ohne Übergang aneinander zu reihen. Ein Beispiel: Neben den „Köpfen des Alltags“ des Fotografen Helmar Lerski steht bei Ihnen direkt „das Deutsche Volksgesicht“ der Hitlerbewunderin Erna Lendvai-Dircksen. Einmal der linke Zionist, Medienkünstler und experimentell arbeitende Lerski, ein Star der Moderne der Weimarer Republik und, auf der anderen Seite die Autorin von dem „Germanischen Volksgesicht“, einer völkischen Porträtbuchserie im Gefolge der vorrückenden deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg.
Entsprechend unvoreingenommen gehen Sie auch mit den Buchpublikationen des Kalten Krieges um. Sie sagen, die Qualität der Publikationen wäre das Kriterium der Auswahl gewesen. Was sind denn die besonderen Qualitätsmerkmale ideologisch geprägter Fotobücher?
Thomas Wiegand
Wir hatten und haben keine Bedenken, Propagandabücher zu verwenden. Warum auch? Die Propaganda gehörte im Nationalsozialismus und in der DDR zum täglichen Leben.
Die von Ihnen angesprochenen Bücher von Lendvai-Dircksen und Lerski sind im gleichen Jahr, 1931, erschienen, sie sind also beide zeittypisch – unabhängig von der politischen oder weltanschaulichen Ausrichtung ihrer Autoren oder dem Grad an Modernität, der aus den Büchern spricht. An ein, zwei anderen Stellen im Buch kommt es noch viel heftiger zum Aneinanderstoßen verschiedener Propaganda-Positionen und bildgewordener Ideologien.
Uns ging es in der Tat nicht darum, so etwas zu glätten oder das so lange hin und her zu wenden, bis die Brüche aufgehen und alle Irritationen verschwunden sind. Ganz im Gegenteil. Am liebsten hätten wir die plakativsten Nazi-, Anti-Nazi- und Stasi-Bücher verwendet, wenn sie nur in sich stimmig sind und als Werk tatsächlich eine hohe Qualität hätten (was man ganz leicht durch Vergleichen herausfinden kann, hat man nur eine ausreichend breite Materialbasis). Qualität heißt bei diesen Büchern, dass die propagandistische Absicht durch Fotos, Einsatz von Texten, Gestaltung… perfekt umgesetzt wurde. Dies ist selbstverständlich unabhängig von der hinter den Büchern und ihren Autoren stehenden Ideologie zu betrachten.
Niemand würde ernsthaft den russischen Foto-Bilderbüchern aus den dreißiger Jahren ihre hohe Qualität absprechen, obwohl sie im Dienste der menschenverachtenden Politik Stalins standen. Die deutschen Beispiele aus Drittem Reich und DDR sind weniger avantgardistisch, sondern biederer, was man als Ausdruck von Zeit, Land, Politik, Mentalität… zu akzeptieren hat.
Einer detaillierten historischen oder kunsthistorischen Bewertung dieser Art von Büchern wollten und konnten wir aber im Rahmen dieses Überblicks nicht vorgreifen. Für Hoffmanns Hitler-Bücher wurde damit schon begonnen (Rudolf Herz, Hoffmann & Hitler – Fotografie als Medium des Führer-Mythos, München 1994). Manfred Heiting und Roland Jaeger werden u.a. zum Propaganda-Aspekt in ihrem bereits erwähnten Werk über deutsche Fotobücher aus der Zeit zwischen 1914 und 1945 weiteres Material vorlegen.
Die Beschäftigung mit der Fotografie der DDR steckt, wie die jüngste Ausstellung in Leipzig (Fotografie seit 1839) gezeigt hat, in Hinsicht auf die Propaganda-Funktion und die Staatsnähe einiger Fotografen noch ziemlich in den Kinderschuhen.
Das eindrucksvollste deutsche Fotobuch des Kalten Krieges, „Kannibalen“ von Heynowski und Scheumann, erschien 1967 in der DDR. Im Kern ist das ein Buch über das deutsch-deutsche Verhältnis, obwohl es von Auseinandersetzungen im Kongo handelt (www.fotokritik.de/artikel_88.html). Ich habe es zwar im Text erwähnt, allerdings nicht mit Bildern in „Deutschland im Fotobuch“ aufgenommen, weil der Fokus ziemlich eng auf das im Titel angedeutete Thema gerichtet bleiben sollte.
Wenn unser Buch die Diskussion über Fotobücher voranbringen sollte, wäre eine seiner wesentlichen Aufgaben erfüllt.
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Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Thomas Leuner.
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