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Texte zur zeitgenössischen Fotografie und digitalen Bildkunst
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Die stille Gegenwart der Photographie - Auszug aus dem 2. Kapitel

von Lorne Carl Liesenfeld


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Verhältnis des Fotografen zur Welt


Das Verhältnis des Fotografen zur Welt zeigt sich in der »Sphäre des persönlichen Sehens« eines jeden einzelnen Fotografen und realisiert sich anschließend im »Fotografischen Bildfeld«. Wie unterschiedlich diese persönliche Sicht bei sonst nahezu gleichen Bedingungen ausfallen kann, sehen wir auf den berühmt gewordenen Fotografien eines jungen Mannes, der mit einer Einkaufstüte in jeder Hand mitten auf der Chang’an Avenue beim Platz des Himmlischen Friedens in Peking einer anrollenden Panzerkolonne ostentativ die Weiterfahrt verwehrt. Stuart Franklin/Magnum, Charlie Cole/Newsweek, Jeff Widener/Associated Press und Arthur Tsang Hin Wah/Reuters haben die Szene im selben kurzen Zeitraum, aber aus etwas unterschiedlichen Perspektiven, am 5. Juni 1989 von verschiedenen Balkonen des Beijing-Hotels aus aufgenommen.
Charlie Cole hatte sich für einen engen Ausschnitt entschieden. Auf seiner Fotografie sind die beiden Einkaufstüten deutlich zu erkennen. Sie weisen den Mann nicht als Berufsrandalierer aus, sondern als jemand, der auf dem Nachhauseweg vom Einkaufen ist.
Die roten Sterne der Panzer als Zeichen des Kommunismus treten deutlich in den Vordergrund. Ebenso ist auf symbolischer Ebene die Konfrontation zwischen Mensch und Maschine herausgestellt.
Stuart Franklins und Arthur Tsangs Aufnahmen dagegen zeigen die ganze Szene: Die enorme Breite der Chang’an Avenue ist klar erkenntlich und ein ausgebrannter Bus zeugt von den Krawallen der vorhergehenden Nacht. Ihre Einstellungen heben eher die Isoliertheit des Mannes hervor, seine Winzigkeit inmitten einer bedrohlichenWelt. Wideners Aufnahme stellt ebenfalls die Aussichtslosigkeit des Menschen angesichts der Übermacht des Militärs in den Vordergrund, doch ist die Perspektive nicht so steil, weil er von einem tiefer liegenden Balkon aus fotografiert hatte; dafür tritt die Straßenbeleuchtung deutlicher hervor. Dasselbe Ereignis enthält also durch verschiedene Brennweiten und Perspektiven eine jeweils andere Aussage. Diese Aufnahmen sind kurz darauf um die Welt gegangen und haben unter dem Titel Tank Man Berühmtheit erlangt.


Jede Fotografie des jungen Mannes, der mit Einkaufstüten in beiden Händen vor einer Panzerkolonne steht, heißt Tank Man, ob von Stuart, Cole, Widener oder Tsang aufgenommen. Hier ist jedoch nicht ganz klar, ob die Namensgebung der Fotografie Tank Man auf der Verbindung der Designate „Mann“, „Einkaufstüten“ und „Panzer“ am 5. Juni 1989 in Peking beruht, oder ob sie sich auf den Mann bezieht, dem man in Ermangelung eines richtigen Namens, eben weil er mit einer Einkaufstüte in jeder Hand mitten auf der Chang’an Avenue beim Platz des Himmlischen Friedens in Peking einer anrollenden Panzerkolonne ostentativ die Weiterfahrt verwehrt hatte, den Namen „Tank Man“ verliehen hat, so wie „Superman“ oder „Hulk“ oder „Tarzan“. Tank Man wäre also in diesem Fall nicht als Titel einer Fotografie einer bestimmten Situation an einem bestimmten Tag in einer bestimmten Stadt zu verstehen, sondern als Ersatz für den eigentlichen Namen eines unbekannten Mannes, der zum Titel einer Fotografie geworden ist.
Das Bild könnte also ebenfalls Zhao Qiang heißen, wenn der Mann so hieße. Doch ist es ein erheblicher Unterschied, ob vier Fotografen ihre Aufnahmen Zhao Qiang oder Tank Man betiteln. Denn vier verschiedene Aufnahmen von Zhao Qiang könnten den jungen Mann in jeder nur erdenklichen Pose und in jeder Stadt zeigen; es wäre stets eine Fotografie, der man den Titel Zhao Qiang geben könnte. Zhao Qiang könnte plötzlich auftauchen und man fotografiert ihn, sagen wir mal, im Park beim Füttern der Enten; dann wäre der Titel Tank Man als Entenfütterer berechtigt. Doch Tank Man als Tank Man ergibt keinen Sinn; höchstens Zhao Qiang als Tank Man. Der Name Tank Man hat, auch wenn ihn der junge Mann schon am selben Tag bekommen hätte,zumindest für die Photographiegeschichte nur innerhalb dieser einzigen Situation seine Berechtigung. Man hat sich also bis heute nicht geeinigt, ob man mit Tank Man den Menschen meint, oder die Fotografie jener Situation. Gerade diese Situation zeigt, wie sehr wir in der Photographie dazu neigen,ein Designat mit seinem ikonischen Zeichen gleichzusetzen,und wie sehr das Designat und sein Abbild – fälschlicherweise – miteinander verwoben sind, ja austauschbar erscheinen.
Jede F o t o g r a f i e hat einen Titel – nicht die Situation,die wir auf ihr abgebildet sehen!
Wir betrachten auf einer Fotografie Ikone, und keine Designate. Das einzige Designat, das wir betrachten,ist ein Stück Papier mit Ikonen aus Silberkristallen. Somit müssten also Stuart Franklin, Charlie Cole, Jeff Widener und Arthur Tsang ihrem »Fotografischen Bildfeld« jeder für sich einen anderen Titel geben, auch wenn sie dieselbe Situation in der Wirklichkeit abgebildet haben. Denn jede Fotografie ist Ausdruck einer anderen »Sphäre des persönlichen Sehens«. Zum Beispiel könnte Stuart Franklins Aufnahme Konfrontation auf der Chang’an Avenue heißen, Charlie Coles Aufnahme Ziviler Ungehorsam, Jeff Wideners Aufnahme David und Goliath und die von Arthur Tsang Mann stellt sich Panzern in den Weg.
Damit wäre eine klare Zuordnung gewährleistet. Doch erzeugt jeder Titel andere Assoziationen, jeder hat einen bestimmten Klang. Ein derart allegorischer Titel wie David und Goliath ist im Journalismus weniger angebracht – gerade hier erwartet man, dass Designat, Titel und Zeichen „ein und dasselbe“ sind. Man begnügt sich deshalb mit der Bezeichnung „Bildunterschrift“ statt „Titel“, gerade um die starke Verzahnung der Designate mit dem »Fotografischen Bildfeld« nicht zu gefährden. NOTE 6
Aus der heutigen Sicht könnte man jedoch ebenfalls folgendermaßen verfahren: Jeder der Fotografen benutzt „Tank Man“ als Eigennamen innerhalb seiner Bildunterschrift. So könnte Stuart Franklins Aufnahme Konfrontation zwischen Tank Man und Panzern auf der Chang’an Avenue heißen, Charlie Coles Aufnahme Tank Man zeigt seinen zivilen Ungehorsam, Jeff Wideners Aufnahme Tank Man und Panzer und die von Arthur Tsang Tank Man stellt sich Panzern in den Weg. Somit würde jeder der Fotografen vom Wiedererkennungswert des Begriffs „Tank Man“ profitieren, und gleichzeitig hätte jede Fotografie einen eigenen Titel. Und der unbekannte Mann hätte endlich einen Namen, ohne immer auf diese Situation bezogen sein zu müssen.
Korrekterweise dürfte jedoch nur das »Primäre fotografische Bildfeld« einen Titel bekommen.Und zwar jedes für sich einen anderen. Falls es auf einem Rollfilm zum Verwechseln ähnliche Aufnahmen derselben Situation gibt, wie das mit angesetztem Motordrive vorkommen kann, können diese, immer unter Beibehaltung desselben Titels, der genauen Zuordnung wegen auch durchnummeriert werden. Das möchte ich eine Fotografische Folge nennen.
Durch Filmmaterial der BBC wissen wir, dass sich das Ereignis eine Weile hingezogen hatte. Der Fahrer des ersten Panzers hatte Tank Man ja nicht einfach samt seiner Einkaufstüten überrollt und ist weitergefahren, sondern hatte zunächst versucht, ihn zu
umfahren. NOTE 7
Doch immer wieder hatte Tank Man dem Panzer die Weiterfahrt
verwehrt. Die Situation begann langsam ins Komische abzugleiten, denn hinten kamen immer mehr Panzer dazu, die anhalten mussten, ohne zu wissen, um was es geht, sodass sie sich zu stauen begannen. Es ist dieses eine Ereignis der Weltgeschichte, das zum Titel Tank Man inspiriert hat; ob Tank Man jetzt etwas mehr links oder rechts steht, ob nur vier oder ob zwanzig Panzer in der Kolonne stehen und warten, ändert nichts am Titel. Jedes weitere »Primäre fotografische Bildfeld« ist deshalb Teil derselben »Fotografischen Folge«. Somit könnten Stuart Franklins Aufnahmen statt wie bisher Tank Man folgendermaßen heißen: Konfrontation zwischen Tank Man und Panzern auf der Chang’an Avenue, Fotografische Folge 1, Peking, 5. Juni 1989; die nächste Aufnahme auf dem Negativstreifen, die mehr Panzer zeigt, bekäme dann die Nummer 2 und so weiter.
Doch wie benennt man das »Sekundäre fotografische Bildfeld«? Es ist ja stets ein Ergebnis aus dem »Primären fotografischen Bildfeld«.


Im Journalismus ist dieses in der Regel lediglich die tonale Umkehrung eines Negativs. Stuart Franklins Fotografie müsste also korrekterweise als „Abzug von Konfrontation zwischen Tank Man und Panzern auf der Chang’an Avenue, Fotografische Folge 1, Peking, 5. Juni 1989“ bezeichnet werden, und falls es mehrere Abzüge davon gibt: „Abzug Nr. 5/10 von Konfrontation zwischen Tank Man und Panzern auf der Chang’an Avenue, Fotografische Folge 1, Peking, 5. Juni 1989“. Doch könnten Stuart Franklins Abzüge desselben »Primären fotografischen Bildfelds« auch durchaus unterschiedlich ausfallen: anderes Papier, härterer Kontrast, Ausschnittsvergrößerung, Unterdrückung oder Hervorhebung einzelner Bildteile. In diesem Fall müsste man noch zusätzlich die Anzahl der Interpretationen angeben. Also: „Abzug Nr. 5/10 von Konfrontation zwischen Tank Man und Panzern auf der Chang’an Avenue, Fotografische Folge 1, Interpretation 2, Peking, 5. Juni 1989“. NOTE 8


Nach einer Weile kletterte Tank Man jedoch auf den Panzer, und begann, die Soldaten darin zu beschimpfen. Erst hier bricht die »Fotografische Folge« von Tank Man ab; es entsteht eine neue Situation in der Wirklichkeit. Das möchte ich als Fotografische Variation bezeichnen. NOTE 9
Obwohl es sich immer noch um Tank Man und seine Auseinandersetzung mit den Panzern an jenem Tag in Peking handelt, verlangt diese Situation einen neuen Titel, also beispielsweise Tank Man beschimpft Panzerinsassen, Fotografische Folge 1, Peking, 5. Juni 1989. Gerade hier, innerhalb der »Fotografischen Variation«, zeigt sich, wie wichtig es ist, dass der junge Mann Tank Man heißt, und dass es unsinnig ist, die Fotografien von vier Fotografen Tank Man zu nennen. Denn nur so kann jeder Fotograf unmissverständlich und präzise seine »Fotografischen Folgen« und »Fotografischen Variationen« betiteln. Wenig später ist Tank Man von unbekannten Männern in Zivil gefasst und aus dem Blickfeld gedrängt worden. Ob er noch lebt, ist nicht bekannt. ♦♦



ANMERKUNGEN


6. Manuel Alvarez Bravo hat hingegen mit Absicht Titel kreiert, die überhaupt nichts mit dem »Fotografischen Bildfeld« zu tun hatten. Damit wollte er die Phantasie in eine völlig andere Richtung lenken.
7. Hier zeigt sich auch, wie man eine Fotografie auf völlig unterschiedliche Art und Weise interpretieren kann. In China ist diese Aufnahme, zumindest von Seiten der Regierung, ein Gleichnis dafür, wie der Staat den einzelnen Bürger achtet; im Westen dagegen symbolisiert sie Davids Kampf gegen Goliath.
8. Eine starke Ausschnittsvergrößerung von Stuart Franklins »Primärem fotografischen Bildfeld« wäre eine völlig neue Interpretation der Situation. Sie würde eher der »Sphäre des persönlichen Sehens« Charlie Coles entsprechen.
9. Eine derartige Aufteilung hilft dem Fotografen vor allem, Bewegungsabläufe innerhalb der Wirklichkeit besser verstehen zu lernen. Doch ist es bei einer geradezu filmartig schnellen Folge von Aufnahmen, wie sie heutige Fotoapparate liefern können, manchmal schwer geworden festzustellen, wann die »Fotografische Folge«
in eine »Fotografische Variation« übergeht. Hier muss der Fotograf selbst entscheiden.



Das Buch DIE STILLE GEGENWART DER PHOTOGRAPHIE ist erschienen bei Königshausen & Neumann, Würzburg, Dezember 2014


24.03.2015


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Schlagworte: Tank Man, das fotografisches Bildfeld, die Bildunterschrift, Stuart Franklin, Charlie Cole, Jeff Widener