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Texte zur zeitgenössischen Fotografie und digitalen Bildkunst
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Die Kunstgeschichte entdeckt das Fotobuch. Ein Tagungsband offenbart Mangel und Selbstbewusstsein.

von Thomas Wiegand


Als Dokumentation einer Tagung im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München erschien unlängst ein Buch, das neben einer Einleitung 15 Aufsätze zu Themen der Fotobuchforschung versammelt. Einer der Anlässe war eine Schenkung eines Teils der privaten Fotobuchbibliothek von Stefan Moses an die Institutsbibliothek.


In der Einleitung heißt es selbstbewusst: „Dieses Buch steht am Beginn einer prosperierenden Fotobuchforschung und möchte einen Beitrag zur Aufarbeitung eines wegweisenden fotografischen Arbeits- und Repräsentationsformates leisten“ (S. 15). Um Missverständnissen vorzubeugen, nein, dieses Buch ist nicht der Grundstein, auf dem die Fotobuchforschung aufbauen wird, es steht mit am Anfang, aber es ist nicht der Anfang. Die dicken Fundamente liegen in den Übersichtswerken wie denen von Parr/Badger, Heiting/Jaeger, Karasik, Kaneko, Fernandez oder Koetzle. Der Tagungsband gibt aber Einblicke, wie die Forschung derzeit mit dem ausgebreiteten Material umgeht und wie sie damit vielleicht weiterbauen wird.


Der Titel des Buches macht stutzig: Gedruckt und erblättert – Das Fotobuch als Medium ästhetischer Artikulation seit den 1940er-Jahren. „Gedruckt“, sicher, es geht um Gedrucktes, „erblättert“, sind denn Fotobücher nur zum Blättern da? Und schon wird es schwierig, denn wie „liest“ man Fotobücher? „Ästhetische Artikulation“ bedeutet wohl, dass sich die Kunstgeschichte der Sache annimmt und dass es nur um „ästhetisch“ ausgewiesene Arbeiten gehen wird, was entsprechend definiert werden müsste. Was kann die Kunstgeschichte dazu leisten? „Seit den 1940er Jahren“ heißt seit 1940, seit 1945, seit 1949 einschließlich der Kriegsberichte und Wiederaufbaupropaganda? Tatsächlich sind in dem Sammelband zwei Beiträge über Bücher von Margret Bourke-White zum Kriegsgeschehen und zu Weegees Naked City (1945) enthalten.


Mich hat insbesondere der für das Thema grundlegende, das Buch einleitende Beitrag von Steffen Siegel interessiert, der zwischen den Zeilen offenbart, dass die Wissenschaft sich noch schwer mit der Materie tut. Die Anekdote, mit der Siegel beginnt, handelt von der bibliothekarisch korrekten, aber für den Nutzer völlig unbrauchbaren Form der Verzeichnung eines Ausstellungskataloges, der sich in jeder Hinsicht dem Standard entzieht und selbst eher Künstlerbuch als Kunstbuch ist: The PhotobookMuseum, eine Box mit einzelnen Broschüren, Faltblättern und sonstigen Drucksachen.
www.fotokritik.de/artikel_169.html , www.kasselerfotobuchblog.de/der-broschuerencontainer


Der Wissenschaftler wundert sich darüber, dass er jedes Faltblatt einzeln vorgelegt bekam und dass er auf diese Weise bei einer maximalen Bestellmenge von zehn Bänden pro Tag in seiner Institutsbibliothek 3,3 Tage bräuchte, um die ganze Box mit 33 Drucksachen zu sehen. Warum kauft er sich das Objekt nicht einfach? So schön es ist, dass die Bibliothek die Photobook-Museum-Box überhaupt angeschafft hat – keine Bibliothek der Welt kann alle Fotobücher oder für die Fotobuchforschung relevante Literatur vorrätig haben. Und, leider, keine oder fast keine Bibliothek unternimmt Anstrengungen, einen Schwerpunkt für dieses Gebiet zu bilden, auszubauen oder zu unterhalten. Dazu gibt es einfach zu viele Fotobücher und die Preise für gesuchte Exemplare sind zu hoch. Man ist also vorläufig auf die Pioniertätigkeit von Sammlern wie Parr, Heiting, Auer und anderen angewiesen, um den riesigen Bestand überblicken zu können.


Kunsthistoriker vergleichen gern dieses mit jenem. Die Kunsthistoriker suchen sich die sie interessierenden Objekte heraus und lassen dann ihrem via Fußnoten nachprüfbaren Wissen freien Lauf. Im Tagungsband zum Beispiel werden zwei Bücher zum Thema Großstadt in Verbindung gebracht (Abisag Tüllmann, Großstadt, mit Jitka Hanzlova, Hier). Mich macht es misstrauisch, wenn man gleich bei August Sanders Antlitz der Zeit landen muss, nur weil das Layout von Hier an das von Antlitz der Zeit erinnert und es erschließt sich mir nicht, warum nicht Hanzlovas frühes Werk Bewohner (1996, 2. Auflage 2001) über die bloße Erwähnung hinaus einbezogen wurde.


Es scheint Fotobücher zu geben, die eine bessere Eignung als Untersuchungsobjekt für die Kunstgeschichte haben als andere. Und, das zeichnet sich ab, es gibt eine Handvoll von Referenzwerken, die gerne genannt werden wie früher(?) in der Fotogeschichte die schier unverwüstlichen Klassiker von Benjamin, Freund und Barthes. Warum wohl? Hier hätte die kunsthistorische Fotobuchforschung eine lohnende Aufgabe, indem man minutiös der Wirkungsgeschichte von Sanders, Franks, Kleins und anderer Autoren Fotobücher nachginge, die in der Tat einflussreich waren. Siegel schlägt zudem vor, auch Bildzusammenstellungen in die Untersuchungen einzubeziehen, die kein Buch mehr sind, sondern nur dessen Präsentationsformen übernehmen bzw. modifizieren wie Dateien oder Apps. Das liegt nahe, ist aber angesichts der großen Menge der noch unbearbeiteten gedruckten Werke eher ein zweiter Schritt, denn erst einmal müssten die Fragestellungen und Methoden für das traditionelle Medium Fotobuch entwickelt und verfeinert werden.


Dazu war etwas Grundlegendes auch bei den Referenten der Tagung angekommen, was man eigentlich nicht mehr betonen muss (irgendwo habe ich davon auch in dem Tagungsband gelesen, der sich daran auch konsequent hält): Abbildungen in der Literatur über Fotobücher müssen Doppelseiten oder Folgen von Doppelseiten zeigen, nicht Ausschnitte daraus im Sinne von einzelnen Bildern. Die in Deutschland noch immer nicht erschöpfend geklärten urheberrechtlichen Fragen für die Reproduktion von Fotobüchern für Publikationen über Fotobücher wären für den Tagungsband ein spannendes, weil brisantes Thema gewesen. Es könnte sein, dass die wissenschaftliche Fotobuchforschung künftig zu Ergebnissen führt, die die Ansprüche auf Urheberrechte an Fotobüchern neu bewerten hilft. Solange das nicht geschehen ist, werden Reproduktionen im wissenschaftlichen Zusammenhang weiterhin unter das Zitatrecht fallen, was derzeit von Rechterverwertern in Frage gestellt wird. www.fotokritik.de/artikel_160.html


Dass die Berücksichtigung buchkundlicher Aspekte wichtig wäre, betont auch Siegel, auch wenn das noch nicht bei allen Autorinnen und Autoren der Beiträge im Tagungsband angekommen sein mag. Jaeger und Heiting haben mit Autopsie gezeigt, wie wichtig es sein kann, das Buch nicht nur von den Bildern her zu sehen. Die Kunstwissenschaft wird sich diesem Feld nicht verschließen können, denn Fotobücher sind, das betont auch Siegel in seinem Achtpunkteplan, mehr als die Summe von Fotos. Insbesondere die Gestaltung einschließlich der Wahl von Papier, Format, Bindung…… macht einen entscheidenden Teil am Fotobuch aus. Es mag für die inhaltliche Würdigung von Helga Paris´ Bändchen Häuser und Gesichter über Halle keine Bedeutung haben, dass es zwei Auflagen gab, aber als Wissenschaftler sollte einem an so viel Genauigkeit gelegen sein, dies wenigstens in einer Fußnote zu erwähnen.


Das weist in die Richtung eines im Tagungsband zwischen den Zeilen immer wieder aufscheinenden Problems: Fotobuchforschung betreibt man an welchen Büchern? An den Erstausgaben, an späteren Auflagen, anderen Ausgaben, Reprints oder gar an Studienausgaben? Wer hat die Bücher, wie und wo sind sie verfügbar? Siegel zieht Parallelen zu dreidimensionalen Objekten wie Skulpturen oder Gebäude, die im Seminarraum ähnliche Präsentationen erfordern, wenn man nicht gleich zu den Originalen reist und seine Studien dort erledigt. Wie also geht man im Falle von Büchern in kunsthistorischen Seminar vor, wo typischerweise mit fotografischen Reproduktionen gearbeitet wird? Darf man von den Studierenden verlangen, dass sie sich dasjenige Buch kaufen, das analysiert werden soll? Oder soll die ganze Gruppe um ein (womöglich hochpreisiges Vintage-) Buch herum sitzen? Da kann ich nur hoffen, dass wenigstens der Dozent die relevante Ausgabe – welche nicht immer die Erstausgabe sein muss – vorliegen hat und er nicht selbst, wie in der Anfangsanekdote, schon an den strengen Regeln und den begrenzten Möglichkeiten der eigenen Institutsbibliothek scheitert.


Eine andere offene Frage ist die Definition, was ein Fotobuch eigentlich sei. Das wird sich irgendwann mit Hilfe der Bemühungen der Kunsthistoriker vielleicht ändern – es wird zu einer Übereinkunft kommen, nicht zu einem Messergebnis. Fotobücher sind nicht grundsätzlich Werke der Kunst (bzw. der „Ästhetik“, siehe Untertitel des Tagungsbandes), sind nicht grundsätzlich Künstlerbücher. Fotobücher im Sinne einer Definition, die eine Beschäftigung mit ihnen lohnte, sind aber auch nicht alle Bücher (oder Drucksachen), die mit Fotos illustriert sind. Die Versuche, ein „Fotobuch“ im wissenschaftlichen Sinne einengend und präzisierend zu definieren, dürfen vor Gattungen wie Firmenbücher (denen ein allzu oberflächlicher Beitrag im Tagungsband gewidmet ist), Propaganda, Werbung oder Städteportraits nicht halt machen. Da mögen anerkannte Künstler an Fotografie, Layout und Text beteiligt gewesen sein, aber es sind keine Künstlerbücher, sondern eben „Fotobücher“.


Was ist zum Beispiel mit Auftragsarbeiten der Stadtverwaltungen, die für die Fremdenverkehrswerbung Bildbände in Auftrag gegeben haben? Ist die von Hahs gestaltete Broschüre So ist Halle (1930) mit Fotos von Finsler ein „Fotobuch“? Würden Bücher wie Heidersbergers Wolfsburg (1963) oder der überaus komplexe, von Klimešová in Form gebrachte Band über Brno von Reichmann, Hruby und Budik (1964) als bloße Bildbände durch das Raster fallen? Fotobücher müssen eine Geschichte erzählen, egal um welches Thema es geht und unabhängig vom Genre. Zudem gibt es viele gute Fotobücher, die aus eigentlich schlechten Fotos gemacht wurden, und noch mehr schlechte Bücher, die gute Fotos enthalten. Gut und schlecht zu definieren ist hier eine heikle Frage der Erfahrung und des eigenen Horizonts; man kann sich hier nicht allein auf den wie auch immer gebildeten Kanon oder auf die Fußnoten der Vorgänger verlassen.


Ob es sich lohnen wird, kunsthistorische Fotobuchforschung zu betreiben? Wenn man die Bücher nur als Sammlung von Bildern sieht, wird das nicht weit führen. Das hat auch Siegel in seinem Achtpunkteplan gesehen. Wie man die Bücher in ihrer Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, also in ihren historischen, sozialen, künstlerischen, wirtschaftlichen, philosophischen… Dimensionen einschätzt, steht auf einem anderen Blatt. Wie immer gilt, dass Engagement nötig ist, um seinem Forschungsgegenstand gerecht werden zu können. Allein metasprachliche Kompetenz und die Kenntnis einiger Standardwerke werden auf Dauer nicht ausreichen. Im Falle eines Fehlens der eigentlichen Untersuchungsobjekte wird das zudem finanziellen Aufwand bedeuten, sei es, um die betreffenden Fotobücher zu kaufen oder ihnen nachzureisen. Schön wäre es, wenn sich eine wissenschaftliche Bibliothek im Lande vermehrt diesem Schwerpunkt widmen wollte und sogar Lücken im Altbestand durch gezielte Ankäufe oder Einwerben von Spenden schlösse! Und die Ankäufe dann nicht ihrer Schutzumschläge beraubte, sondern diese und andere Elemente der Buchausstattung (wie Bauchbinden, Schuber, Beilagen) bei den Büchern beließe.


Wenn so etwas geschähe, hätte man einen weiteren wichtigen Grundstein zur Beschäftigung mit einer lange Zeit kaum beachteten kulturellen Leistung gelegt, als welche Gemälde, Kupferstiche, Baudenkmale oder Werke der Literatur für die Wissenschaft schon lange gelten.



Gedruckt und erblättert. Das Fotobuch als Medium ästhetischer Artikulation seit den 1940er Jahren, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2016 (Schriftenreihe des Studienzentrums zur Moderne…, Band 3), 278 S., Broschur, ISBN 978-3-86335-906-5, 28 €


Inhaltsverzeichnis des Bandes: siehe d-nb.info/1095675486/04

16.06.2016


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Schlagworte: Fotobuch, Fotobuchforschung, Künstlerbuch, Kunstgeschichte