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Texte zur zeitgenössischen Fotografie und digitalen Bildkunst
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Der Aufstand der Flickr-Kunden

von Joachim Schmid


Flickr hat sich in relativ kurzer Zeit als der führende Internet-Bilderdienst etabliert. Das Angebot ist zwar nicht konkurrenzlos, hat aber so viele Nutzer, daß es de facto den Marktstandard definiert. Kürzlich änderte die Firma ihre Geschäftsbedingungen und provozierte damit einen Proteststurm, der in der kurzen Geschichte des Internet kaum seinesgleichen findet.


Für diejenigen, die nicht so recht wissen, was ein Bilderdienst im Internet ist, eine kurze Einführung: Die Nutzer – das sind Fotografen vom Gelegenheitsknipser über den engagierten Amateur bis zum Semi-Profi, vom Kunstinteressierten über den Tierbeobachter und den Familienausflug-Chronisten bis zum Vollblut-Pornografen – laden ihre Bilder auf den Server der Firma, versehen sie dabei mit Titeln und Schlagworten ( Tags ) und ordnen sie in Alben. Die Nutzer tun das aus vielerlei Gründen: um ihre eigenen Speichermedien zu entlasten (die Fotos werden ja bei Flickr gespeichert), um ihre Bilder Freunden und Bekannten zugänglich zu machen, um sie anderweitig im Internet zeigen zu können – und um Gleichgesinnte kennenzulernen und sich mit diesen auszutauschen. Die Flickr -Community ist in tendenziell endlos vielen Gruppen organisiert und die meisten Nutzer sind Mitglieder mehrerer Gruppen. In diesen Gruppen werden Bilder ähnlich interessierter Nutzer zusammengefasst, außerdem findet dort verbaler Austausch über tendenziell jeden Aspekt des die Gruppe verbindenden Themas statt. Für die Erfolgsgeschichte hilfreich war, daß das relativ übersichtlich und deshalb relativ einfach zu bedienen ist, relativ pannenfrei funktioniert und relativ billig ist (für ganz Sparsame gibt‘s sogar die – etwas eingeschränkte – kostenlose Version).


Ganz wie im richtigen Leben werden im Internet die erfolgreichen Kleinen von den Großen gefressen. Flickr trägt seit einiger Zeit den Zusatz „a Yahoo! company“. Für die Nutzer änderte sich durch die Übernahme zunächst nichts; nach einer Übergangsfrist wurden sie allerdings gezwungen, als Flickr -Kunden auch Yahoo- Kunden zu werden. Der Zugang zu Flickr ist nur noch durch das Yahoo- Portal möglich. Im richtigen Leben wäre das etwa so, als ob Karstadt sich den hervorragenden Gemüsehändler um die Ecke einverleiben und uns dann zwingen würde, zum Gemüsekauf fortan durch den weiter entfernt liegenden Karstadt- Haupteingang zu gehen. Das kostet keinen Cent mehr, Kundenkarte gibt‘s kostenlos dazu und außerdem noch Bonuspunkte. Keiner der Kunden hat allerdings jemals darum gebeten. Es stimmt auch, daß uns keiner zwingt, unser Gemüse gerade hier zu kaufen, nur ist der nächste Händler noch weiter entfernt und außerdem schlechter sortiert oder teurer oder was auch immer. So viel nur nebenbei zum Thema König Kunde.


Die überwiegende Mehrheit der Flickr/Yahoo- Kunden folgte den neuen Regeln, teils murrend zwar, aber doch nach wie vor von den Vorteilen des Dienstes überzeugt. Anfang Juni nun präsentierte sich die Firma in neuem Gewand: Die Benutzerführung ist nicht mehr nur englischsprachig, sondern wahlweise auch chinesich, deutsch, französisch, italienisch, koreanisch, portugiesisch oder spanisch – beziehungsweise für die Mehrheit eben nicht wahlweise. Denn in den Ländern, in denen eine dieser Sprachen vorwiegend gesprochen wird, erfolgte die Umstellung automatisch; dank der Registrierung bei Yahoo kennt die Firma ja den Wohnsitz jedes Kunden. Ganz nebenbei und klammheimlich wurde dabei ein weiteres Detail verändert: Nutzer in Deutschland, Hong Kong, Korea und Singapur bekommen nur noch eine gefilterte Version des Milliarden Fotos umfassenden Bilderpools zu sehen.


Noch einmal ein kurzer Exkurs für diejenigen, die nicht mit Flickr vertraut sind: Wer jemals mit einer großen Menge Bilder zu tun hatte, weiß wie schwierig es ist, in dieser Masse etwas Bestimmtes zu finden, einen Überblick zu gewinnen und diesen zu behalten (und wir haben es bei Flickr mit der größten jemals zusammengetragenen Masse von Fotos zu tun). Die den Bildern von den Nutzern zugewiesenen Tags erweisen sich dabei – halbwegs intelligente Anwendung vorausgesetzt – als äußerst hilfreich. So finden einschlägig Interessierte einfach Fotos von Gänseblümchen, wenn die Gänseblümchen-Fotografen die passenden Tags zuordneten, und niemand muß sich auf der Suche nach Fotos von Gänseblümchen durch einen Stapel Bergsteiger-Porträts oder Pornografie wühlen (vorausgesetzt, der Pornograf applizierte kein Gänseblümchen-Tag). Das funktionierte hervorragend, aber nie völlig ohne Probleme, und wer die Flickr- Diskussionsforen durchsucht, findet haufenweise Beschwerden insbesondere über unerwünschte Begegnungen mit pornografischen Bildern (oder was die Leute in unterschiedlichen Teilen der Welt eben dafür halten). Solche Probleme versuchten die Anbieter zu vermeiden, indem offensichtlich unerwünschte Bilder aussortiert wurden. Als viel effektiver erwies sich jedoch die freiwillige Selbstkontrolle der Nutzer: Diese waren aufgefordert, anstößige Bilder als „privat“ kennzuzeichnen, so daß diese nur noch für einen eingeschränkten Kreis von Interessenten sichtbar waren. „Privat“ und „öffentlich“ waren nicht nur Kategorien für Bilder, sondern auch für Diskussionsgruppen, so daß nur Regelverstöße zu unerwünschten Begegnungen führten, und diese ließen sich ahnden.


Diese System wurde nun durch „Inhaltsfilter“ ersetzt. Die Accounts der Nutzer werden als „unbedenklich (safe)“, „mittel (moderate)“ oder „eingeschränkt sicher (unsafe)“ kategorisert, die Nutzer sind aufgefordert, ihre potentiell anstößigen Fotos entsprechend einzustufen. Was haben wir uns darunter vorzustellen? Laut Flickr/Yahoo folgendes: „Kategorisieren Sie Ihre Bilder verantwortungsvoll. Bilder, die Sie nicht unbedingt Ihren Kindern, Ihrer Mutter oder Ihrem Onkel Erwin zeigen würden, müssen Sie in die entsprechende Kategorie einordnen. Stellen Sie sich beim Hochladen die Frage, ob dies auf Ihre Bilder zutrifft, und moderieren Sie die Bilder entsprechend. Wenn Sie dies unterlassen, behalten wir uns eine Überprüfung Ihres Accounts vor und moderieren oder löschen ihn gegebenenfalls.“ Das erklärt zwar die Kategorien nur unzureichend, läß aber ansonsten an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig.


Eine weitere Neuerung ist, daß jeder Nutzer die Möglichkeit hat, bei der Suche nach Bildern die beiden zuletzt genannten Kategorien auszublenden, so daß nur noch „unbedenkliche“ Bilder angezeigt werden. Jeder Nutzer? Hier liegt das Problem: „Wenn Sie eine Yahoo!-ID aus Singapur, Deutschland, Hong Kong oder Korea verwenden, können Sie aufgrund der dortigen Geschäftsbedingungen die sichere Suche nicht abschalten.“ Das heißt im Klartext, daß die Nutzer in den genannten Ländern nur eine Disney-kompatible Auswahl von Bildern zu sehen bekommen. Beim nicht mehr sichtbaren Teil der Bilder handelt es sich – das nur nebenbei für die Anhänger der Prüderie – keineswegs ausschließlich um Pornografie oder Erotik. Wer beispielsweise derzeit bei Flickr unter dem Stichwort „Iraq“ nach Bildern sucht, bekommt je nach Yahoo- ID eine recht unterschiedliche Anzahl von Fotos gezeigt; deutschen Nutzern werden mehr als dreitausend Stück vorenthalten. Wer da neugierig wird und sich die Mühe macht, mit einer zweiten, außerhalb Deutschlands registrierten Identität die fast hunderttausend Irak-Fotos durchzusehen, wird festellen, daß es sich beim unterschlagenen Teil wie zu erwarten nicht um aus dem Irak stammende Pornobildchen handelt, sondern um Fotos von Demonstrationen gegen den Krieg, die irgend jemand aus irgendeinem Grund als „bedenklich“ kategorisierte, oder um wenig appetitliche Fotos, die – vermutlich meist von nicht ganz linientreuen Angehörigen der US-Army dort eingestellt – bei Flickr ihre einzige Öffentlichkeit finden beziehungsweise fanden. Demselben Publikum, dem solche Bilder nun nicht mehr zugänglich sind, werden auch „bedenkliche“ Fotos säugender Mütter nicht mehr zugemutet. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.


Von der Wucht des Protest, der auf diese Änderung folgte, scheinen die Verantwortlichen ehrlich überrascht worden zu sein. Binnen weniger Stunden hatten sich bei Flickr mehrere Gruppen etabliert, in denen sich der Unmut der Nutzer verbal wie visuell manifestierte – und daraus entwickelte sich eine Lawine von beachtlichem Ausmaß. Wenn es noch eines anschaulichen Beweises bedurfte, wie effektiv virale Kommunikation im Internet-Zeitalter funktionieren kann, mit dem Protest gegen die Zensur bei Flickr wurde er erbracht. Die mitgliederstärkste Protestgruppe wuchs binnen weniger Tage auf bis heute mehr als elftausend Teilnehmer, die eine nicht mehr überschaubare Anzahl von Beiträgen ins Forum stellten, wobei die nationalstaatlichen Grenzen der zensierten Gebiete für das Einzugsgebiet der Protestierenden nur von geringer Relevanz sind. Wer mag, kann sich im Diskussionsforum selbst ein detailliertes Bild machen (www.flickr.com/groups/againstcensorship/), wer mag, wird ohne großen Aufwand weitere Gruppen finden. Die Nachhaltigkeit des Protests ist nicht nur Folge der ungebremsten Wut vieler Nutzer, sondern auch Folge des dilettantischen Krisenmanagements von Flickr/Yahoo.


Die Firma war bis heute nicht in der Lage, eine stichhaltige Erklärung für die Änderung der Geschäftsbedingungen zu liefern. Die Firma war bis heute ebenfalls nicht in der Lage, der protestierenden Kundschaft – mehrheitlich handelt es sich um zahlende Kunden – mit einer akzeptablen Kommunikationsstrategie zu begegnen. Statt dessen bemühen sich die Verantwortlichen, den Protest selbst aus dem Angebot zu filtern und sorgen so ungewollt für Nachschub. Es entwickelte sich eine erbitterte Auseinandersetzung mit teilweise so grotesken wie amüsanten Zügen. So ging Flickr etwa dazu über, alle Bilder mit auf Zensur verweisenden Tags auszufiltern – eine einfache technische Lösung. Daß die Protestbilder anschließend mit Blumen-, Tier- und Heile-Welt-Tags versehen wurden und in noch größerer Anzahl eingestellt wurden, stellt Flickr vor ein deutlich schwieriger zu lösendes Problem. Denn wenn der Konflikt andauert und unzählige „getarnte“ Protest-Fotos jede Bildersuche ad absurdum führen, kann das zu einer Bedrohung des gesamten Systems werden. In der Konsequenz ist das so, als würden in einer Bibliothek die Karteikarten wahllos gemischt. Wer das als Bibliotheksbetreiber nicht zu unterbinden weiß, macht sich bei den Nutzern äußerst unbeliebt.


Wer sich nun fragt, warum die Nutzer der Firma nicht einfach den Rücken kehren, wenn diese ihre Geschäftsbedingungen zum Nachteil der Kunden ändert, übersieht einen wesentlichen Faktor: den damit einhergehenden Verlust einer nicht-monetären Investition. Die Nutzer bezahlen relativ wenig Geld und bekommen dafür einen relativ guten Service, der sie an die Firma bindet. Je länger diese Bindung andauert, desto stärker wird sie, und nach geraumer Zeit ist sie das ausschlaggebende Kriterium. Die meisten Nutzer fanden in den Flickr- Gruppen Gleichgesinnte und Gesprächspartner, die sie außerhalb nie gefunden hätten. So entstand ein globales, Millionen Menschen umfassendes Netzwerk mit unzähligen Verästelungen, das zum wahren, von den Nutzern kostenlos entwickelten Kapital der Firma wurde. Wer zur Konkurrenz wechselt, kann daran nicht mehr partizipieren. Flickr ist zwar als Host keineswegs konkurrenzlos, das Flickr- Netzwerk ist es. Das wissen die bei Flickr/Yahoo Verantwortlichen, und sie lassen ihre Kunden zappeln wie ein Dealer seine Fixer. Darunter leiden am offensichtlichsten alle, die sich für Amateur-Pornografie interessieren. Jede andere Form von nicht konformer Öffentlichkeit ist davon ebenso betroffen.

20.06.2007


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Schlagworte: Flickr, Zensur