Ja, aber noch nicht im wirklichen Leben!
von Thomas Leuner
„Ja – aber noch nicht im wirklichen Leben!“
Der Fotograf Thomas Leuner besuchte im Jahre 1987 für einige Tage eine sowjetische Mittelschule in der weißrussischen Stadt Minsk im Rahmen eines Fotografenaustausches zwischen dem damaligen West-Berlin und der Belorussischen Sowjetrepublik. Über diesen Besuch entstand eine Bild- und Wortreportage.
Minsk, 2. September 1987
Zwischen dem Ufer der Swislatsch und dem Lenin-Boulevard-Prospekt, der Leninskaja, etwas versteckt hinter einem kleinen Park an der Internationalen Straße 44, liegt die Mittelschule Nummer 24. Für einige Tage ist sie „meine Schule“; ich will am Unterricht teilnehmen – beobachten, wie solch ein Schulalltag hier in der belorussischen Hauptstadt Minsk verläuft.
„Was, in die Schule willst Du gehen?“ Anatoli Schynkewitsch, der Pressesprecher der Belorussischen Freundschaftsgesellschaft, war erstaunt und belustigt, aber im Zeichen von „Glasnost“ geht alles: Ich bin endlich „frei“, kann mich ohne Begleitung bewegen, in eine normale Schule, in den normalen sowjetischen Alltag eintauchen.
Bisher hatte ich vier Tage mit meinem West-Berliner Kollegen Udo Hesse das offizielle staatliche Besuchsprogramm absolviert: Dolmetscher, Chauffeur, Wolga-Limousine, offizielle Empfänge und Fotografie-Privilegien – verdiente Schriftsteller, Bildhauer, Maler, Balletteusen, Wissenschaftler und Fußballer ließen sich vor die Kameras des ausländischen Korrespondenten bitten.
Am Abend aber, nach dem Ende des offiziellen Programms, saßen wir in dem riesigen „Erster Klasse“ – Hotel verloren zwischen Hochzeitsgesellschaften, skandinavischen Kurztouristen und ständig wechselndem Hotelpersonal wie Ingenieure, die in einem fremden Land auf „Montage“ arbeiten.
Mit einem 5-Kopeken-Fahrschein ausgestattet mische ich mich an diesem 2. September unter den morgendlichen Berufsverkehr an der großen Bushaltestelle vor dem Lublijena-Hotelkomplex. Es ist ein schöner Herbstmorgen. Der Verkehr auf dem breiten Boulevard ist für unsere Verhältnisse spärlich: Neben der nicht abreißenden Folge von Bussen, dem regen Gebrauch teilweise auch privater Taxis, hält sich der Autoverkehr in Grenzen, Motorräder sind die Ausnahme, Fahrräder werden außer als Sportgerät nicht benutzt. Die Busse sind voll mit gepflegten Menschen, die Gesichtszüge vertrauter als die manch eines Südeuropäers; die Belorussen, also Weißrussen, sind ein Grenzvolk: militärisches Durchmarschgebiet von Napoleon bis Hitler, voller Einflüsse durch die polnischen, ukrainischen, baltischen und russischen Nachbarn. Außer der Ressource gut ausgebildeter Menschen in den wenigen Städten gibt es eine große bäuerliche Tradition, die aber wenig in Erscheinung tritt. Sanfte Hügel, Wiesen, endlose Wälder und große Kolchosen auf fruchtbarem, sumpfigem Boden prägen diese sowjetische Provinz. Die Industrie in den Städten ist jung und will sich das Image modernen Hightechs zulegen. Eine der russischen Sowjetrepubliken scheinbar ohne Nationalitätenprobleme – das Weißrussische wird offiziell als Dialekt der russischen Amtssprache behandelt. Die Provinzialität scheint gelassen, die Imitation des westlichen Konsumstils sind nur in Ansätzen erkennbar, noch ist der Lenin-Sticker nicht von den westlichen Emblemen verdrängt.
An der Majakowskaja Ecke Leninskaja, schräg gegenüber der belorussischen Zirkusarena, steige ich aus und schlendere, da ich noch etwas Zeit habe, in Richtung der Swislatsch-Uferpromenade. Vor mir hasten noch einige Schüler und verschwinden in Hinterhöfen, um noch über Schleichwege rechtzeitig die Schule 24 zu erreichen.
Über der Swislatsch und den angrenzenden kleinen Parks liegt erster, herbstliche Nebel gegen die die aufsteigende Sonne ankämpft. In diesem feinen Schleier erkenne ich einen unendlichen Wurm laufender Gestalten in Trainingsanzügen, aus den nahegelegenen Kasernen ergießen sich Soldaten zum Frühsport in den Uferpark. Vielleicht fünf Minuten stehe ich eingequetscht auf der Brücke der Swislatsch, umrundet von jungen, keuchenden Männern, die ebenso urplötzlich, wie sie erschienen sind, auf der anderen Seite der Brücke wieder im Nebeldunst des Flusses verschwinden. Alle zwanzig Meter baumelt an einer der Trainingsjacken ein Gerät in der Größe eines kleinen Transistorradios und läßt Stimmgebrabbel ertönen. Ein Radio? Flotte Frühstücksweisen? Funk? Befehle? Manchmal scheint sich Russisch-martialisches in sinnentleerter Spielerei zu verflüchtigen.
Später erzählte mir eine der beiden Deutschlehrerinnen von ihrer Enttäuschung bei dem Besuch des Schlosses Sanssouci: „Die Statuen im Park sind ja nur aus Sandstein. Bei uns, im Leningrader Schloss, ist dagegen alles aus Marmor gehauen!“ Ihre stolz blitzenden Augen in dem zu früh erwachsen gewordenen Gesicht vermischen sich mit dieser nicht enden wollenden Schlange junger russischer Wehrpflichtiger. Ein großes und reiches Land?
Für Minsker Verhältnisse ist die Schule 24 mit ihren 720 Schülern und 56 Lehrern klein, sie ist auch eine der ältesten Schulen der im Krieg vollständig zerstörten Stadt. In dem 1957 im massiven, aber soliden Backsteinstil der Stalin-Ära erbauten Schulgebäude, wird als Besonderheit Deutsch- und Englischunterricht angeboten. Von der ersten Klasse bis zum Schulabschluss, der zehnten Klasse, lernen die Jugendlichen in kleinen Gruppen intensiv Fremdsprachen. Was für mich den unschätzbaren Vorteil hat, mich direkt mit den Schülern verständigen zu können.
Eine schmale Auffahrt führt zu dem von der Straße her etwas abgesetzten, mit Bäumen umstandenen fünfstöckigen ockerfarbenen Schulgebäude. Auf dem asphaltierten Schulhof, den ich auf meinem Weg am Sportplatz vorbei zur unscheinbaren blau-grünen Eingangstür der Schule überqueren muss, fallen mir auf dem Asphalt aufgemalte eigenartige Linien in Form großer Rechtecke auf. Das erinnerte mich an Relikte aus dem Kunstunterricht. Aber der Sinn dieser Raster sollte sich mir erst später erschließen, sie dienen dem bilden grader Reihen beim Exerzieren und Repräsentieren.
Der Strom der morgendlichen Schülerkonvois ist verebbt, und nur noch Eltern, die ihre Kinder zum Unterricht gebracht hatten, kommen mir entgegen.
Drinnen im Halbdunkel der Eingangshalle empfängt mich eine einfache, mit Nelken geschmückte Lenin-Büste, drum herum wimmelt und wuselt es von aufgeregten kleinen Gestalten. Heute, am 2. September, ist der erst normale Schultag nach den dreimonatigen Sommerferien. Sehr fremd wirkt die Schuluniform: die Jungen in blauen Blazern mit weißen Hemden und roten Bindern, die Älteren mit schwarzer Krawatte; die Mädchen tragen dunkelbraune Kleider zu schwarzen, selbst genähten Rüschenschürzen - bei feierlichen Anlässen in weiß -, dazu Haarschleifen und Spitzenkragen. An den Füßen – als Stilbruch, aber zeitgemäß – Turnschuhe, an denen ab und zu der „Nike“-Schriftzug aufblitzt, daneben Schultertaschen aus Plastik, Aktenköfferchen und Nylon-Sporttaschen.
Tatjana Nikolajewna
„Dobro Utro!“, begrüßt mich Tatjana Nikolajewna. Sie ist die Klassenlehrerin der zehnten Klasse, bei der ich die Schulbank für ein paar Tage drücken soll. Andrej und Dima, beide mit roter Binde am Oberarm als Zeichen ihrer Aufsichtspflicht, strahlen. Tatjana Nikolajewna ist nicht zu bremsen: „Wenn ich mit meiner Klasse wie heute Schuldienst habe, stehe ich hier am Morgen und begrüße die Schüler – wenn sie mich nicht grüßen, so mache ich das eben!“ Sie lacht. „Vorbild sein – auf jeden Fall lernen sie so, was Höflichkeit ist.“ Ihr breites Gesicht ist immer in Bewegung: Wortkaskaden, rollende Augen, großräumige Gesten – dabei scheint ihr Temperament so wenig zu dem für russische Frauen um die vierzig typisch fülligen Körper auf hohen Blockabsätzen zu passen. „Woher ich meine Energie nehme? Vom Sport natürlich! Mit der Familie zusammen – und auch am Sonntag, dann gehen wir Pilze suchen, das ist doch auch Sport! Da muss man soviel laufen!“ Allgemeines Gelächter. Die Stimmung ist gut, nicht umsonst ist Tatjana Nikolajewna eine der beliebtesten Lehrerinnen.
Einige Erstklässler rasen quiekend über den Flur, Andrej und Dima springen mit offenen Armen dazwischen – ein Kichern und Prusten –, die Ordnung ist ohne großes Gebrüll wieder hergestellt.
Neben der aufsichtführenden Lehrerin ist der Eingangskorridor das Reich der Tante „Lida“. Sie ist die Dienstfrau. Sie hat die Schulklingel zu bedienen und die kleinen, nach Geschlecht und Alter unterteilten Garderobenzimmerchen zu überwachen. Ihr Platz ist neben dem häufig frequentierten Garderobenspiegel. Dort sitzt sie, eingehüllt in einen dicken Mantel gegen den Zug, und schaut immer etwas griesgrämig und verschnupft drein – sie ist Rentnerin. Solche Frauen zu finden, so wird mir später versichert, wird immer schwieriger: für die zweite Schicht von Mittag an – für die Unterklassen wurde wieder Nachmittagsunterricht eingeführt – findet sich außer Studentinnen niemand mehr für diese Arbeit. Ähnliche Schwierigkeiten gäbe es bei den Putzfrauen: Sie können es sich mittlerweile aussuchen, wo sie arbeiten wollen, wird von den Schülern behauptet. Für diese Woche bedeutet das für meine 10. Klasse: Sogar die Herren stehen nach Schulschluss mit Schrubber und Eimer, die Ärmel ihrer weißen Hemden hochgekrempelt, mit wehender Krawatte in den Schulgängen und putzen. Natürlich ist eine Tante Lida nicht ersetzbar, wie sie tagtäglich am Eingang hockt, ihren alten Kopf mit einem riesigen Turban geschmückt, einem aufgesteckten blau-weiß karierten Kopftuch nach ländlichen Brauch; an diesem Morgen, zwischen der einförmig dunklen Schultracht in dem zwielichtigen Korridor, wirkt sie wie ein herabgefallener Engel aus einem fernen Kosmos.
Die Deutschstunde
Die 21-köpfige Klasse ist in zwei Gruppen aufgeteilt und wird von Soja Ewgenjewna und Ludmilla Petrowna unterrichtet. Dima spielt meinen Piloten und zeigt mir den Weg zu den Deutsch-„Kabinetten“ im vierten Stock. Kabinette deshalb, weil es keine Klassenräume gibt, sondern die Schüler während ihres achtstündigen Schulalltags von einem Raum zum anderen wechseln. Die Räume sind jeweils von den Lehrern ausgestaltet.
Die Deutschlehrerinnen haben für mich eine Begrüßungsstunde arrangiert: „Ja, die Schüler sollen etwas über sich erzählen!“ Eine steht auf: „Ich heiße Tanja, bin 15 Jahre und höre gerne New-Wave-Musik, mein Vater ist Ingenieur, meine Mutter Leiterin eines Kindergartens; und ich möchte Pädagogin werden.“ Schnell wird mir klar, woher die Kinder kommen. Ob es denn viele Arbeiterkinder gibt? „Ja, zwei!“ Einmal Andrej – einer der vier Jungen in dieser Klasse mit diesem Vornamen; Andrej will Schauspieler werden. Neben der Schule spielt er in einem Theaterensemble, bevorzugt dramatische Rollen und baut, was er mir vertraulich erst später erzählt, eine Heavy-Metal-Gruppe auf. „Stern“ soll sie heißen. Sie üben noch „trocken“, also ohne Publikum und warten noch auf eine Genehmigung für den öffentlichen Auftritt. Groß, blond, mit weit ausholenden Gesten ist er einer der widerborstigsten der für uns sehr brav wirkenden 15- bis 16-Jährigen. Als zweite Alaja: Ihre Mutter arbeitet in der neu eröffneten Minsker U-Bahn, der Vater ist Brigadier in einer Gießerei. Sie wirkt sehr still und unbeholfen, offensichtlich schwimmt sie nur am Rande des Klassenverbandes mit; bei meinen späteren Porträtsitzungen möchte keines der Mädchen mit ihr zusammen fotografiert werden.
Warum es auf der Schule 24 so wenig Arbeiterkinder gibt, erklärt mir Tatjana Nikolajewna in ihrer offenen Art: Die Schule selbst wird durch ihren Standort im „Zentralen“ -Bezirk der Stadt Minsk bestimmt, einem Bezirk, der ähnlich wie die Wohngegend um die Ostberliner Karl-Marx-Straße, sehr von den dort wohnenden „Intelligenz“-Familien, also den Akademikern geprägt wird. In diesen meist nur fünfstöckigen, massiven Gebäuden mit Zuckerbäcker-Fassaden der Nachkriegszeit, die das Gebiet um den Leninskij-Prospekt prägen, lebt es sich auch nach unserem post-modernen Vorstellungen ganz angenehm. – Geschäfte, Kultur, ein breiter, immer belebter Boulevard und ruhige Wohnungen nach hinten heraus. – Das ist der Einzugsbereich der Schule. Nur wenige Schüler kommen aus den Neubaugebieten, die sich Wald- und Holzhäuschensiedlung fressend kreisförmig um das Zentrum der nunmehr 1,6 Millionen zählenden Stadt ausgebreitet haben.
„Außerdem geben sich die Intelligenz-Familien mehr Mühe bei der Sprachförderung, daher legen sie auch mehr Wert auf Fremdsprachen und schicken ihre Kinder hierher. “Tatjana Nikolajewna ist Realistin. „Nein, es sind alles Kinder“, antwortet sie auf meine erneute Nachfrage; ich wusste, sie stammt aus einer ländlichen Arbeiterfamilie aus dem südlichen Belorußland, dem Gebiet um Gomel, einem dieser spät entwickelten Gebiete, die dann auch noch von der Tschernobyl-Katastrophe heimgesucht wurde. Später erzählt mir Dima voller Genugtuung, dass in der Parallelklasse, die schwerpunktmäßig Englisch lernt, die meisten Kinder aus Professorenfamilien stammen: „Die haben überhaupt keine Solidarität mehr untereinander.“
Alles in allem ist die Schule 24 nichts Besonderes und mit den ironischen Worten meines Austauschpartners, dem Fotografen Michail Schilinski kommentiert, der selbst seinen gehätschelten Sohn pünktlich jeden Morgen dort zum Unterricht bringt, „weder ist die Schule etwas Besonderes, noch die Schüler, sondern die Eltern halten sich für was Besonderes!“
„Ich lerne schlecht!“
Die Vorstellung der Schüler geht weiter. Ludmilla Petrowna bittet nun, die schlecht deutsch sprechenden Schüler sich vorzustellen: „Ich heiße Natascha Gromakowskaja, ich lerne schlecht.“ – „Warum?“, treibt sie Ludmilla Petrowna an. – „Weil ich tanze.“ Sie tanzt in dem Laienzirkel „Cherasitza“ Belorussischen Volkstanz. Sehr erfolgreich, versichert mir Soja Ewgenjewna, die ältere der beiden Deutschlehrerinnen, sogar auf dem Parteikongreß hätten sie getanzt. Ihre Eltern sind Ärzte und sie möchte Kindererzieherin werden. Als ich einige Tage später meine Porträtsitzungen mit der Klasse mache, schreibt sie mir als Berufswunsch „Schauspielerin“ auf meinen Zettel. „Sie ist häufig kränklich gewesen, schon seit ihrer Jugend“, erklärt mir Tatjana Nikolajewna. „Nein, so etwas wie Sitzenblieben gibt es bei mir nicht, die Leistungen der Schüler sind das Antlitz der Lehrer. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kläre ich das persönlich mit den Schülern, mache Elternbesuche oder wir beraten uns in der Lehrerkonferenz.“
Mit Ende der zehnten Klasse wird die Hochschulreife erworben, sodass die Berufswahl das beherrschende Thema ist. Natürlich steht Dolmetscher als Berufswunsch an erster Stelle, gefolgt von Arzt, Offizier und Ingenieur; für die Mädchen bleibt es bei den pädagogischen Berufen.
Der junge Marx
Nach der Vorstellung beginnt der Deutschunterricht. Was liegt näher, als das uralte Spiel „Was habt ihr in den Ferien gemacht?“ Einer nach dem anderen steht auf. „Ihr könnt ruhig sitzen bleiben“, versucht Ludmilla Petrowna, das reflexartige Aufstehen zu unterbinden. Jeder hat in „seinem“ Beruf gearbeitet, als Verkäuferin im GUM, Bauarbeiter, Röntgenassistent – die Palette ist breit und hat mehr mit dem sowjetischen Lebensalltag zu tun als die geäußerten Berufswünsche. Neben dem normalen Schulunterricht sind ein Tag in der Woche und ein Teil der Ferien für eine handwerkliche Berufsausbildung reserviert. Geld verdient haben sogar auch einige, zwischen 80 und 100 Rubel. Wem denn die Arbeit Spaß gemacht hat, fragt die Deutschlehrerin zum Abschluss. Nur zwei Finger heben sich. Ludmilla Petrowna lässt sich durch diesen pädagogischen Tiefschlag nicht beirren. Das Argument „Lust“ spielt bei der Berufswahl ohnehin nur eine untergeordnete, fast luxuriöse Rolle. Über einen Schulaufsatz des jungen Marx, der sich mit der Freiheit der Berufswahl auseinandersetzt, wird das Thema angegangen, Kriterien: Idealismus, Vorbild Marx, der Einsatz für die Menschheit, gesellschaftliche Notwendigkeiten.
„Wofür interessierst Du Dich, Kiril?“ – „Für Mathematik und Physik und ... für das Essen.“ Gelächter. „Was hast du sonst noch in den Ferien gemacht?“ – „Ich war in Wladiwostok bei meiner Großmutter.“ – „Was hat Dir gefallen?“ – „Die vielen japanischen Waren!“ Gelächter. „Das kann doch nicht alles sein?“ – „Ja, das Marine-Museum.“ Kiril, groß und schlaksig, trägt das Herz noch auf der Zunge.
In den späteren Aufsätzen über die Berufswahl bleibt nur noch das Offizielle übrig: „In der Sowjetunion gibt es die freie Berufswahl. Nach der zehnten Klasse hat jeder die Möglichkeit, ein Studium zu ergreifen ...“.
Frontalunterricht und Glasnost
Im Physikunterricht, der zweiten Stunde, fühle ich mich an meine eigene Schulzeit in den 50er-Jahren erinnert. Frontalunterricht, ein autoritärer, gefürchteter Lehrer. Es handelt sich um den früheren Direktor, einen der wenigen männlichen Mitglieder des pädagogischen Kollektivs. Er hat Karriere gemacht und ist in das Volksbildungskommissariat aufgestiegen und hält nur noch pflichtgemäß ein paar Schulstunden ab. Abfragen, Wissen pauken, schon in der ersten Woche nach den Ferien gab es einen schriftlichen Test. Folge: Das Fach Physik nimmt die Aufmerksamkeit der Schüler überproportional in Anspruch. „Nur dank meiner Freunde habe ich jetzt noch ein Ausreichend zustande bekommen!“, gesteht mir später Pawel bei der Rückgabe des Physik-Tests. Pawel gehört mit Adolf und Dima, dem Komsomolsekretär, zu den ernsthaften, intellektuellen Jungen. Er möchte wie sein Großvater Jurist werden und manchmal, wenn er kontrolliert und würdevoll mit etwas verrutschtem Binder unbewegt durch seine großen Brillengläser in die Ferne schaut, scheint er diese Rolle schon zu beherrschen. – „Als Jurist brauchst du wirklich kein Physik“, tröste ich ihn. Um seine Zukunft brauche er sich keine Sorgen zu machen, auch die gorbatschowsche Revolution von „oben“ muß sich juristischen Sachverstandes bedienen.
Neue Pädagogik
Natürlich gibt es auch im Zuge der Umgestaltung und Demokratisierung der Sowjetunion neue pädagogische Ansätze: Unter dem Schlagwort „die Schule von Morgen“ wird, angeführt von dem Pädagogen Michael Shchetinin, so ziemlich genau das angstfreie und effektivere Lernen propagiert, das bei uns unter der sozialdemokratischen Reform-Ära Brandts unter dem Stichwort der „Bildungsmisere“ und „mehr Demokratie wagen“ bekannt wurde.
Glasnost und Perestroika haben den Schulalltag noch nicht erreicht, noch wird diskutiert, ob man das Schulsystem überhaupt so grundsätzlich, wie von den Pädagogen um die Shchetinin-Schule vorgeschlagen wird, verändern soll.
Der Lehrerberuf ist in der Sowjetunion besonders wegen der schlechten Bezahlung ein Frauenberuf mit geringem Sozialprestige. Die Erhöhung des Einkommens der Lehrer deutet aber auf eine Aufwertung hin. In seinem historischen Referat vor dem ZK der KPdSU am 27. Januar 1987, die bei uns unter dem Schlagwort „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“ bekannt wurde, widmet sich Gorbatschow auch dem Verhältnis zur Jugend. „... wir müssen uns schneller und entschlossener von allem Unnötigen in der Arbeit mit der Jugend befreien, vor allem vom schulmeisterlichen Ton und Administration. Ja, das alles gibt es, und darüber muss gesprochen werden ... Genossen, es gibt keinen anderen Weg für die Persönlichkeitsentwicklung, für die Herausbildung eines staatsbürgerlichen Standpunktes eines jungen Menschen als seine reale Einbeziehung in alle gesellschaftlichen Angelegenheiten. Das Fehlen von konkreten Erfahrungen kann durch nichts ersetzt werden. Deshalb ist es wichtig, die entstandene Lage zu verändern. Was meine ich damit? Es geht vor allem um mehr Vertrauen in die Jugend, um sachkundige Hilfe und die Freiheit der kameradschaftlichen Kritik an Fehlern, um die Selbständigkeit bei der Organisation der Arbeit, des Studiums, des Lebens, der Freizeit und mehr Verantwortung für ihre Angelegenheiten und Handlungen. Aber das setzt auch das Recht voraus, an der Leitung der Gesellschaft teilzunehmen ...“
Für den Schulalltag meiner Zehnten haben sich die Worte Gorbatschows nur wenig ausgewirkt. Der Lehrplan wurde erweitert, will sagen, der Stoff wurde umfangreicher: Informatik als Fach neu eingeführt und der Sprachunterricht auf technische Texte erweitert. Sonja Ewgenjewna schüttelt missbilligend den Kopf, als sie mir das neue Deutschbuch zeigt.
Das zweite Stichwort der Reformen Gorbatschows, die Öffnung und Demokratisierung der Gesellschaft, findet ihren auffälligsten Niederschlag bei der Wahl der Schuldirektorin. Tamara Michajlowna war 1985 zum ersten Mal direkt vom pädagogischen Kollektiv, also dem Lehrerkollegium, gewählt worden, ohne dass die Schulverwaltung unmittelbar Einfluss nehmen konnte.
Die Verunsicherung
Öffnung bedeutet auch Öffnung gegenüber dem fremden, nichtsozialistischen Ausland. Darunter fällt auch mein Erscheinen als ausländischer „Korrespondenti“. Aber hinter diesem „selbstverständlich können Sie alles sehen“ verbirgt sich spürbar eine große Unsicherheit, die, wie ich es später erleben sollte, auf Funktionärsebene bei der Enttäuschung von Erwartungen bis zur Peinlichkeit rücksichtslosen Verhaltens führt. Hier waren es nur kleine „Wünsche“, die mir nie direkt, sondern „durch“ jemanden überbracht wurden.
Der Physiklehrer lässt mir mitteilen, sein Name solle doch unter den Bildern nicht erscheinen, auch möge ich die Tafel, die im Moment in so einem schlechten Zustand sei, nicht fotografieren. Später lässt mir auch sein Referendar mitteilen, er bitte den ausländischen Korrespondenten, bei seiner Stunde doch nicht anwesend zu sein. Ludmilla Pedrowna ertappe ich dabei, wie sie unangenehme Wahrheiten bei ihren Übersetzungshilfen unterschlägt. Tatjana Michaljowna entzieht sich trotz Zusage einem ausführlichen Interview und dem Fototermin durch diverse administrative Verpflichtungen. Manche Lehrer reagieren auf meine Anwesenheit überhaupt nicht. In der Tat ist es nicht ganz einfach, jemanden in der letzten Bank sitzen zu haben, der aufsteht, wann er will, rausgeht, wann er will, mal zwischendurch eine Zigarette an der Uferpromenade raucht, bei besonders komischen Grimassen des Lehrers das Teleobjektiv zückt, einen Ohrring trägt, was den Schülern ausdrücklich verboten ist, und sich beständig Notizen in ein dickes schwarzes Buch macht.
Der Alltag
Die nächste Stunde Informatik: Zweiundzwanzig Schüler beugen sich über veraltete Computer-Bücher: „Der Computer besteht aus einer Tastatur, dem Rechner und dem Laufwerk…..“.Das obligatorische Fach Belorussisch: Die lustlose Lehrerin rattert die von der Partei vorgeschlagene Literatur herunter. Dann Russische Literatur: Tolstoi, - nach „Anna Karenina“ geht man jetzt „Krieg und Frieden“ an.
In der großen Pause schwärmt die Klasse aus in den nächsten Lebensmittelladen und stopft sich dort voll mit Küchlein, Brause, Milch und stark gezuckertem Kaffee. Die schuleigene Kantine wird wie die Hölle gemieden. In der sechsten Stunde geht es bis ganz oben unter das Dach. „Militärunterricht“, ruft Andrej mir zu. Auf dem Flur in einer Linie Strammstehen, Andrej spielt den Kommandoführer, ein sowjetischer Offizier in Uniform tritt aus dem Klassenzimmer, Gebrüll, Begrüßungsrufe, Andrej marschiert im Stechschritt, die Nike-Turnschuhe klatschen gedämpft auf die Holzbohlen. Kommando! Ein feines, jugendliches Kichern ist unüberhörbar. Dann geht es geschlossen in das Klassenzimmer, Thema: Evakuierung, Schautafeln, Zeigestock – mir fällt ins Auge, besonders wichtig: den Pass nicht vergessen!
An einem der nächsten Schultage finde ich mich unten im Keller, im Schießstand wieder – scharfe Munition, drei Gewehre, es wird auf Scheiben geschossen. Der Offizier sitzt an einem Fernrohr und gibt die Ergebnisse durch. Die anderen Jungs üben an alten Kalaschnikows das blitzschnelle Auseinandernehmen der Waffen und das Laden der Magazine. Im Nebenraum unter Schautafeln und einer alten Gasmaske sitzen die Mädchen beschäftigungslos und plaudern vor Langeweile, einige der Jungs schreiben ihr Schularbeiten ab. „Nach der langen Ferienzeit haben die Jungs verlernt, richtig zu schießen.“ Der Offizier zeigt mir einige Ergebnisse. „Sie können mit dem Druckpunkt nicht mehr umgehen.“ Mit fast kollegialer Geste deutet er auf die Ausreißer außerhalb des schwarzen Zielkreises der Schießscheiben. Der alte Offizier spricht auch etwas Deutsch. „Ja, ich kenne West-Berlin, Tiergarten.“ Das sowjetische Ehrenmal an der Straße des 17. Juni unweit des Brandenburger Tores. Er hat zu diesen puppenhaften Gestalten gehört, die steif und unbewegt zu viert in russischen Militärlimousinen dort Patrouille fahren.
Die neunten und zehnten Klassen haben obligatorisch Militärunterricht, dafür gibt es in der Schule selbst keine musischen Fächer mehr; der Wolga-Deutsche Adolf Eugen gibt mir die offizielle Erklärung: Der zweijährige Militärdienst ist für Jungen zu kurz, sodass schon in den beiden letzten Klassen eine Einführung in den Militärdienst gegeben werden muss. Schießen, Strategie und die Grundbegriffe des Exerzierens. „Thomas“, das ist Andrej, er schwenkt ironisch eine Kalaschnikow über dem Kopf, „in der neunten und zehnten Klasse werden wir auf den Krieg vorbereitet, und das im Frieden!“ Dagegen ist Adolf immer an meiner Seite, wenn es darum geht, die offizielle Meinung festzuhalten. Er wirkt in seiner blonden Eckigkeit sehr deutsch. Als einziger trägt er die Moskauer Schuluniform, einen blauen Blouson, der der Uniform der DDR-Pioniere entspricht. Seine Familie lebt verstreut in den Republiken, sein Großvater ist Kolchosvorsitzender in Sibirien. In seinem sowjetischen Pass steht Nationalität „Deutsch“.
„Bitte gehen Sie!“
An einem der nächsten Tage ist wieder Schießunterricht. Im spärlich erleuchteten Vorraum drängt sich die Klasse, aufgedreht durch den vorher geschriebenen Physiktest, lacht, kichert, und auch die Mädchen schieben sich ganz selbstverständlich die Kalaschnikows über den Rücken. Irina, mit ihrem unschuldigen weißen Gesicht und dem dunkelbraunen Kleid mit weißem Spitzenkragen steht mit dem Schnellfeuergewehr in Pose. Unvermutet taucht der Militärlehrer neben mir auf und herrscht mich an: „Warum fotografieren Sie das?“ Und: „Bitte gehen Sie sofort, verlassen Sie sofort die Schule und kommen Sie morgen wieder!“
Ich packe meine Sachen. „Der spinnt, lass Dich nicht rausschmeißen.“ Dima hält mich fest, auch die anderen wollen mich bewegen, dazubleiben. Irina: „Entschuldige Dich ja nicht!“ Ich warte oben auf dem Flur, bis die Stunde aus ist. Später mithilfe der Deutschlehrerin verlangt der alte Oberst von mir per Handschlag, dass ich das letzte Bild mit dem Mädchen und der Kalaschnikow nicht veröffentliche. Er hätte wegen meiner Anwesenheit die Disziplin in der Klasse nicht herstellen können.
Am Morgen, im Sportunterricht, nach Langlauf und Gymnastik auf den Wegen der Ufer-Parks, kippt der junge Sportlehrer im Nylon-Dress aus einem Turnbeutel Bleigewichte in der Form von Handgranaten mit Stiel, „Handgranaten-Werfen ist dran.“ Vortreten, so weit wie möglich werfen, auch die Mädchen können hier mittun – und der Dackel eines Spaziergängers verirrt sich in den „Handgranaten-Hagel“ und jagt unter allgemeinem Gelächter hinter den Bleistücken her.
Das Vaterland verteidigen wollen eigentlich alle. Der Drill und die Offiziere stehen aber nicht sonderlich hoch im Kurs. Als Einziger hat Kiril schon Erfahrungen gesammelt, er war für ein Jahr auf der Kadettenschule, die man ab der achten Klasse besuchen kann. Nach einem Jahr war er reumütig zurückgekehrt und will nun Bauingenieur werden. Dagegen ist der kleine und zierliche Dennis, seines Amtes Komsomolsekretär der Schule und scheuer Bewunderer meiner Fotoausrüstung, fest entschlossen, Offizier zu werden. Ab und zu lässt er seinen neuen Casio-Taschenrechner aus der Schultasche auftauchen.
In der Chemiestunde sehe ich, wie viel Kraft es Tatjana Nickolajewna, die Klassenlehrerin, kostet, den Frontalunterricht zu durchbrechen: Sie wirkt verglichen mit den sehr gepflegten russischen Lehrerinnen äußerlich etwas vernachlässigt, viele für ihr Alter zu frühe Falten lassen ihr Gesicht in unbeobachteten Momenten müde erscheinen. Sie gehört zu der Art von Lehrern, die vor lauter Konzentration sich beständig mit Kreide beschmieren.
Die Direktorin
Das erste Mal bin ich Tatjana Michaljowna auf dem kleinen Absatz in der Eingangshalle neben der mit Nelken geschmückten Lenin-Büste begegnet: eine stattliche, gepflegte Dame im dunklen Kordkostüm und schwarzen, ondulierten Haaren. So stand sie da, erstarrt zur offiziellen Pose: Es war der 1. September, der Tag, der in der ganzen Sowjetunion als der „Tag des Friedens“ gefeiert wird. Eine deutsche Delegation hatte sich angesagt, und so wartete sie hier mit den drei jugendlichen Vertretern des Ernst-Thälmann-Clubs, Blumen im Arm und mit vorbereiteter Rede. Für uns, die wir verspätet mit Wolga und Chauffeur auf dem Schulhof vorgefahren waren und dabei mit Anatoli Schynkewitsch, unserem Betreuer der Freundschaftsgesellschaft, noch unfeierlich über die klemmende Eingangstür lachten und so in das gedämpfte Licht des Korridors eindrangen, wirkte der Auftritt dieser imposanten Dame mit den drei Jugendlichen in ihren feierlichen Uniformen wie eine kleine, etwas absurde Theaterinszenierung. Die sprechblasenähnlichen Begrüßungsformeln „Wir heißen Sie herzlich willkommen, auch im Namen des Ernst-Thälmann-Clubs der Schule 24 ...“ tat ihr Übriges.
Bevor Tatjana Michaljowna zu einem Gespräch bereit ist, muss ich mir eine Schulstunde von ihr anhören, obwohl sie ganz offensichtlich unter Zeitdruck steht.
Sie zeigt das vertraute Bild einer russischen Lehrerin in den Mitvierzigern, mit einer hohen, etwas schrillen Stimme, die einzelnen Sätze werden wie Salven abgefeuert, treibt sie in rasantem Tempo das Unterrichtsgespräch voran. Abfragen, vorlesen, erklären – alle fünf Minuten wechselt sie bilderbuchartig das didaktische Mittel. Tempo, Tempo, auf die richtigen Antworten kommt es an, die Zeit ist zu kurz, der Stoff zu umfangreich, um Zeit zum Nachdenken und Entwickeln eigener Gedanken zu geben. Die namensgleiche Tatjana, die mir als beste Deutschschülerin übersetzte, war begeistert. Die Russen lieben ihre fast wie Künstler sich inszenierenden Pädagogen.
Später in ihrem Arbeitszimmer ist das Maschinenartige bei Tatjana Michaljowna wie weggeblasen. Als Dolmetscherin hat sie nun eine sprachbegabte Schülerin der neunten Klasse holen lassen. Für eine kurze Zeit entsteht eine fast persönliche Atmosphäre, in der sich Verbindlichkeit, Humor und differenzierte Klugheit andeuten. Tatjana Michaljowna ist seit drei Jahren Direktorin der Schule 24 und vom pädagogischen Kollektiv, den Lehrern der Schule, gewählt. Ihre Befugnisse gehen sehr weit, sie stellt die neuen Lehrer ein und hat die Organisation der Schule zu überwachen, insbesondere ruht auf ihren Schultern auch die technische Organisation. Mit ihren Anfang vierzig, aus einer Lehrerfamilie stammend, ist sie eine Vertreterin der jungen, aber noch im alten Stile erzogenen, mit Gorbatschow sympathisierenden Pädagogen.
Ob es ein Mitspracherecht der Schüler gibt, wollte ich von Tatjana Michaljowna wissen. Meine junge Dolmetscherin schaut mich erstaunt mit großen, scheuen Augen an. Erst nach mehrmaligen Erklärungsversuchen und praktischen Beispielen konnte sie die Frage weitergeben. Tatjana Michaljowna verstand sofort. „Wir möchten gern, aber es ist bisher noch nicht realisiert im Leben!“ Es schwingt für mich in dieser Antwort ein Ton der Hoffnung, aber auch Hilflosigkeit mit, die ich auch bei späteren Elterngesprächen wiederfinde, wenn man auf die Unselbständigkeit der Schüler zu sprechen kommt. „Ja, wir wissen, hoffen aber, dass sich das noch ändern wird.“ Noch eine ganz neue, für die Zeit typische Initiative gibt es an der Schule 24 und als Pilotprojekt für Minsk überhaupt: Auf Initiative von Psychologen, Ärzten und Eltern war eine Kommission gebildet worden, die ein Sport- und Gymnastikprogramm für die Schüler organisiert. Die Teilnahme ist kostenpflichtig, weil nach der offiziellen Schulzeit. Dafür wurde der alte Turnsaal im 4. Stock des Schulgebäudes mit Spiegeln verkleidet und ausländische Geräte angeschafft. Getrennt zwischen Jungen und Mädchen werden dort in Kürze Tai-Chi, Breakdance, Atemgymnastik und andere Kurse angeboten, die sonst in einem modernen Volkshochschulprogramm zu finden sind.
Tatjana Michaljowna bricht hier das Interview ab, ich erhalte ein Gastgeschenk, ein Bildband von der Festungsstadt Brest, der „Heldenstadt“, eine pathetische Bilderfolge in Farbe meines zweiten Austauschkollegen Juri Iwanow, - im Stil des klassischen sozialistischen Realismus: Es gibt keine individuellen Menschen, sondern nur Typen – das unschuldige Kind, der Veteran, der Soldat, die Mutter, die Opfer.
Weitere Fragen
Ein späterer Termin wird vereinbart, an dem ich auch fotografieren will; wegen des Besuchs einer DDR-Delegation, einer Kommission aus Moskau und so weiter und so weiter, kam es nicht mehr zu diesem Gespräch. Je länger ich hier in dieser eigenartigen Stellung zwischen Schüler und Lehrer verbringe, und die eine Seite mir Informationen über die andere gabt, umso präzisere Fragen konnte ich stellen: War tatsächlich ein russischer Soldat, der in Afghanistan gekämpft hatte, in der Schule gewesen und hatte über die „Befriedung“ geredet? Warum gib es in der neunten und zehnten Klasse keinen musischen Unterricht mehr? Und warum dieser ewige Kampf um die „Disziplin“, mit der so Vieles begründet wird: das Verbot der langen Haare, die Schuluniform, keine Ohrringe für Jungen, das Rauchverbot. Mir sind noch die Worte des Einsatzleiters der Feuerwehr beim Unglück in Tschernobyl in den Ohren: Man muss die Menschen disziplinieren, die an den Kommandopulten sitzen, damit sie genau über die Technologie Bescheid wissen, damit zur rechten Zeit mit deutscher Pünktlichkeit der richtige Knopf gedrückt wird, dann wird auch nichts passieren. Das geht eben hin bis zu den Hilfspolizisten, die in den Hauptverkehrszeiten an den Straßenkreuzungen stehen und gnadenlos jedes noch so kleine Verkehrsvergehen auch der Fußgänger durch das Schrillen ihrer Pfeifen zu unterbinden versuchen.
Nach dem Gespräch mit der Direktorin stehe ich noch einen Moment mit meiner jungen Dolmetscherin draußen auf dem Flur. Sie entschuldigt sich, wie ich das schon so häufig in den letzten Tagen gehört habe. „Ich habe mit Sicherheit ganz schlecht übersetzt!“ Und nochmal sich entschuldigend: „Die Schule ist alt und nicht so gut wie die modernen, aber, dabei wirkt sie etwas lebendiger, wir lieben sie sehr, weil sie so gemütlich ist!“ Da schimmert wieder dieses persönliche Gesicht auf. Sie wippt hin und her, schaut mich fragend an – groß, schlank, mit braunen, groben Strümpfen und strengem Pferdeschwanz und Spitzenkragen. „Bin ich entlassen?“ Ja, sie war entlassen. Was war in ihr während der ganzen Zeit vorgegangen? Auf jeden Fall, der Unterricht war ihr zu leicht.
Im Versteck
„Gorbatschow ist der größte Staatsmann seit Lenin.“ Dimas verträumtes Gesicht leuchtet. Er ist ein Intelligenzler-Sohn, will Arzt werden und hat in den Sommerferien in der Klinik gearbeitet. „Musstest Du auch Scheiße wegputzen?“ – „Ich?“ Ganz erstaunt schaut er mich an. „Nein, natürlich nicht, ich habe im Röntgenlabor gearbeitet.“ Er lacht. Wir sitzen in einem kleinen Café, nicht fern der Schule, an der Leninskaja. Es ist leer, nur einige Verkäuferinnen des nahe gelegenen GUM-Kaufhauses unterhalten sich bei Kaffee und Süßigkeiten. Die irreführende Beschilderung am Eingang als „Bar“ führt zu der für Minsker Verhältnissen ungewohnten Ruhe in diesem kleinen Café: Folklore-Musik vom Band, Küchlein, Saft, Kaffee, rotes Licht und Plastikhocker. Hier hatte ich mich mit Dima und den beiden Andrejs in ihrem „Versteck“ verabredet. Vorher musste ich aber der Einladung zur 1. Aktivsitzung des Schulkomsomols im neuen Schuljahr nachkommen, die unter der Leitung von Dennis in einem Kellerraum stattfand. Bei einer erstaunlichen Überzahl von Schülerinnen wurden dann ganz im Sinne der jungen Pioniere der DDR die Aufgaben und Pflichten für das neue Jahr verteilt. Ich verstand nichts.
Der Kontrast konnte nicht größer sein, drei Jungs ohne Schuluniform, ganz zeitgemäß westlich: Andrej, die Brust voller Depeche-Mode-Sticker, die er über Polen bekommen hatte, und alle erzählen begeistert von dem großen Sommerfest in diesem Jahr. Die Straßen rund um die Leninskaja waren abgesperrt; Buden, Bühnen und Musik, sie konnten bis vier Uhr in der Früh herumlaufen. Auch das soll Gorbatschow bringen: Lebendigkeit, Pop, der Anschluss an die westeuropäische, angloamerikanische Kultur. Bei ihrem einzigen Freundschaftsbesuch in Potsdam im letzten Jahr hatten sie zum ersten Mal Westwerbung im Fernsehen gesehen. „Warum stand denn da manchmal auf den T-Shirts CCCP, haben die für uns Werbung gemacht?“ Ein Hoffnungsschimmer glimmt in Dimas Gesicht. „Nein, das ist nur Mode! Von Euch hier in Minsk weiß dort kaum jemand“, muß ich ihn enttäuschen. Aber das ist wohl nicht ganz richtig.
Der deutsch-russische Krieg
„Das deutsche Oberkommando teilt mit: schwere Kämpfe im Raum Minsk ...“, gut drei Jahre fast täglich war dies im Großdeutschen Reichsrundfunk während der Besatzung Belorusslands zu hören, dort, wo die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges am längsten auf russischem Boden gestanden hatten. Keiner der Kriegsgeneration kann vergessen, wo Minsk liegt, kaum einer der Jüngeren konnte meine Reisepläne geografisch einordnen. „Ist das nicht die Stadt in der Nähe von Tschernobyl? Oder bei Moskau?“ Die Amnesie zwischen den Generationen ist gründlich. Dabei ist es doch eigentlich klar: 22. Juni 1941, ohne Kriegserklärung trotz Nichtangriffspakt begann das Unternehmen „Barbarossa“ oder wie die Russen sagen „der Große Vaterländische Krieg“. Bereits vier Tage nach der Überschreitung der russischen Grenze, am 26. Juni, tauchten die Panzerspitzen der Heeresgruppe „Mitte“ vor Minsk auf und schlossen die Stadt und eine halbe Million russischer Soldaten in dem sogenannten Kessel von Minsk ein. Es war eine der ersten Katastrophen, die auf weißrussischem Territorium passierten. Bis zur Befreiung im Juni 1944 gehörte diese Region zu dem Reichskommissariat Ostland. Die sogenannten Sicherungsdivisionen, die der Reichswehr auf dem Fuß folgten, hatten genügend Zeit, ihr unheilvolles Wirken aufs Gründlichste durchzuführen. Ab 1942 organisierte sich in der durch die stalinistischen Repression zuerst verunsicherten Landbevölkerung der Partisanenwiderstand. Er wurde zu einem der grausamsten und verlustreichsten Partisanenkämpfe auf europäischem Boden. Den Rest gab dieser Region der beim Rückzug der Deutschen ausgegebene Befehl der „verbrannten Erde“.
Dank Thälmann
Dank Thälmann, möchte ich sagen, stehe ich hier in dem sonnendurchfluteten, kleinen Kabinett, dem Thälmann-Museum der Deutschlehrerin Ludmilla Petrowna. Es gibt gegen Deutsche keine persönlich spürbaren Ressentiments. Die russische Sicht auf die Vergangenheit trennt säuberlich zwischen den faschistischen Armeen und den Deutschen.
Der kühle Empfang Richard von Weizsäckers in Moskau im Sommer 1987 verwundert nicht, wenn man weiß, dass der Bundespräsident nicht nur als Offizier eines Eliteregiments vor Moskau stand, sondern auch noch im letzten Stadium des Kampfes gegen die Rote Armee im April 1945 „wegen seines schneidigen Einsatzes“ vom obersten Heeresblatt ehrenvoll erwähnt werden sollte. Oder die bissige und ablehnende Haltung des ehemaligen russischen Außenministers Andrej Gromyko gegenüber der Person Helmut Schmidts, der „nie die Lebensphilosophie eines Offiziers der deutschen Wehrmacht abgestreift habe“.
„Ich hatte von der Direktorin etwas Geld zur Verfügung bekommen, und man ließ mir freie Hand: Ludmilla Petrowna, machen Sie nur, wie Sie denken. Dann bin ich durch die Museen gegangen und habe nach Vorbildern gesucht, wie ich das Thälmann-Kabinett ausrichten soll.“
Besonders hatte es Ludmilla Petrowna die Gestaltung im Museum für den Großen Vaterländischen Krieg, eines repräsentativen Baus direkt um die Ecke an der Leninskaja, angetan. Über mehrere Stockwerke ist Saal an Saal vollgestopft mit Waffen, Wandtafeln, Orden, Fotografien, Gemälden und Nachbauten entscheidender Schlachtsituationen. Höhepunkt sind düstere KZ-Modelle und unter einer Samtdecke Knochenasche von verbrannten Sowjetmenschen. Gerade die jungen Schulkassen werden gerne im Rahmen des Friedensunterrichts hierher geführt.
„Der Frieden“
Und so fing Ludmilla Petrowna an in den Sommerferien mit Unterstützung der Eltern ihres Ernst-Thälmann-Clubs, zu zimmern, Schautafeln aufzustellen, Fotos und Bücher zu sammeln. Ludmilla Petrowna repräsentiert mit ihren fünfzig Jahren und ihrer Herkunft aus einer ukrainischen Dorflehrerfamilie noch die Deutschlehrerin idealistischen Typs, die keine Möglichkeit auslässt, die Sprache aus einem deutschen Mund zu hören, diesem besonders für Russen schwer erlernbaren melodiösen Auf und Ab der Sprache zu lauschen. Sie war als Offiziersgattin viel in anderen Republiken herumgekommen und hat eine angenehme Art über die Dinge des Alltags zu reden. Ja, sie waren auch in Lettland gewesen und hatte begonnen, etwas Lettisch zu lernen. Begeistert ihre Erzählungen von ihrer Datscha, dem morgendlichen Gang mit der Milchkanne zu dem nahegelegenen Dorf, frische dampfende Kuhmilch, - eine erdverbundene, häufig anzutreffende dörfliche Lebenssehnsucht.
So stehe ich neben ihr, in diesem Klassenzimmer, unter all diesem DDR-Propagandakitsch: Tellern, Wimpeln voller Slogans, bunten Büchern in sauberen Vitrinen. Zur Klaviermusik vom Band übt ihre nächste Klasse für den Empfang der DDR-Delegation „wir sind die jungen Pioniere ...“, und: ich habe plötzlich genug von „Freundschaft“, diesem beständigen guten Willen, diesem Ausklammern von Dingen, die ich sonst nicht akzeptieren kann. In Gedanken hat mich die ganzen Tage ein Gedicht der berühmten russischen Dichterin Anna Achmatowa begleitet:
„In den schrecklichen Jahren der Jeschow-Säuberung reihte ich mich siebzehn Monate lang in die Warteschlangen vor den Leningrader Gefängnissen ein. Einmal wurde ich von irgendwem erkannt. Die hinter mir stehende, blaulippige Frau, die sicher noch nie von mir gehört hatte, erwachte aus der allgemeinen Erstarrung und flüsterte mir ins Ohr (dort sprachen alle nur flüsternd): „Könnten Sie das jemals beschreiben?“ Und ich sagte: „Ich werde es können.“ Da huschte etwas wie ein Lächeln über dem, was irgendwann einmal ihr Gesicht gewesen war.“ (1935–40)
Berlin im August 2013
Die Gorbatschow-Revolution scheiterte, 1991 zerfiel die Sowjetunion und Weißrußland mit der Hauptstadt Minsk wurde ein eigener Staat, der seit 1994 durch den Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka diktatorisch regiert wird. Das Land ist international isoliert und auf Unterstützung Rußlands angewiesen. Weitere Handelspartner sind Vietnam und der Iran.
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