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Heynowski & Scheumann, Kannibalen - Fotobücher „neu gelesen“, Folge 3

von Thomas Wiegand


„Die Welt soll es wissen!“ – Heynowski & Scheumann: Kannibalen (1967)


Dem Buch sollte ein Beipackzettel für Zartbesaitete beigelegt sein. Kannibalismus ist ein Tabu; die offene Darstellung von Gewalt ist nicht minder problematisch. Fotos von Gewalttaten und deren Opfern kennt man aus Kriegs- und Bürgerkriegssituationen oder vom Holocaust. Das Scho-ckierende daran ist, dass man zunächst einmal automatisch davon aus-geht, dass diese Bilder einen wahren Kern enthalten. „Das fotografische Bild ist seiner Natur nach immer konkret; es ist darüber hinaus immer emotional befrachtet, also erlebnisträchtiger als der abstrakte Gedanke“ (H&S 1966, zit.n. Retrospektive H&S 1976, S.49). Das trium-phierende Fotografieren von Opfern ist eine traditionsreiche Vorgehens-weise, ähnlich wie das Herstellen von Schrumpfköpfen erlegter Feinde oder von Lampenschirmen aus Menschenhaut. Doch die Autoren des Buches wollten mehr, als einen moralischen Sieg zu feiern.


Das Buch „Kannibalen“ hatte 1967 eine Auszeichnung als eines der „schönsten“ Bücher der DDR erhalten. Dabei ist es nicht wirklich schön, eher schaurig. Die Lektüre verspricht ein Erlebnis der besonderen Art, wenn auch der ironisch-verharmlosende Untertitel lautet: „Ein abend-ländisches Poesiealbum in Selbstzeugnissen“. Es richtet es sich gegen den (selbstverständlich) westlichen Imperialismus am Beispiel der Wirren um die Unabhängigkeit (1960) des vormals belgischen Kongo. In diesen bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen waren u.a. auch bundesdeutsche Söldner im Einsatz, worüber 1964 der Stern und andere westdeutsche Zeitungen berichtet hatten (Steinmetz/Prase 2002, S.72). Die mediale Aufbereitung des Auftritts der Landsknechte im Kongo führte zu einer grotesken deutsch-deutschen Episode im Kalten Krieg.


Die Autoren, die DDR-Journalisten und Regisseure Walter Heynowski (geb. 1927) und Gerhard Scheumann (1930-1998), hatten mit Unterstützung des BRD-Kameramannes Peter Hellmich ein filmisches Porträt des westdeutschen Söldners Siegfried Müller (1920-1983), genannt Kongo-Müller, hergestellt. Dazu hatte Hellmich den eitlen Müller am 10.11.1965 nach München eingeladen und ein Studio improvisiert, um ihn dort zu interviewen und dabei zu filmen. Auf ähnliche Weise (und unter Mitwirkung von Peter Hellmich!) hatte Andrew Thorndike 1957 den Nazi-Täter Heinz Reinefarth als Bürgermeister von Westerland/Sylt gefilmt. Müller hatte sich bereit erklärt, seinen Auftritt vor der Kamera in Uniform zu absolvieren, weil ihm dies ein vermeintlich höheres Honorar einbrachte. Laut Hellmich sei Müller seinerzeit „schlicht pleite“ gewesen und habe ein Honorar von ca. 2500 DM erhalten (Steinmetz/Prase 2001, S.77f.; laut Köhler seien es sogar 10000 DM gewesen - Köhler 1966, S.16). Wie im Kongo hatte er sein 1945 erhaltenes eisernes Kreuz (mit Hakenkreuzemblem) an die Brust seiner Tarnjacke geheftet, rauchte und sprach einer Flasche seiner Lieblingsspirituose Pernod zu, die das deutschsprachige Drehteam vorsorglich bereitgestellt hatte. Das lockerte selbstverständlich die Zunge des sich leutselig gebenden, ewig lächelnden Söldners. Am Ende des Films hatte Müller deutliche Artikulationsprobleme… Der mit Standfotos aus dem Kongo und an einer Stelle mit einer passenden Geräuschkulisse (aus Heynowskis Film „Kommando 52“) montierte 62minütige Film zum Thema Krieg in Afrika lief am 9.2.1966 unter hoher Sehbeteiligung im Fernsehen der DDR – und wurde sowohl zu einem Erfolg als auch zu einem Skandal. Gleichzeitig erschien eine dreiteilige Reportage in der Neuen Berliner Illustrierten (NBI). Der Film erhielt beim Dokumentarfilmfest in Leipzig den Sonderpreis der Jury, eine Goldmedaille des „Weltfriedensrates“ und den Autoren verlieh man den Nationalpreis der II. Klasse. In Westdeutschland dagegen gab es zensurähnliche Aufführungsverbote. Am 13.9.1966 wurde noch ein „PS zum Lachenden Mann“ im Deutschen Fernsehfunk gesendet. Müller, der den Veröffentlichungen in einem Vertrag zugestimmt hatte, schrieb ein Buch, wollte sodann in Rhodesien als Fachmann für den „revolutionären, den modernen Krieg“ (Originalton Müller) wirken und verzog endgültig nach Südafrika, wo er schon vor seinem Einsatz im Kongo in einem Hotel-Restaurant, vor allem in dessen Bar, tätig gewesen war. Er kehrte nach der Affäre um die Filme nie wieder nach Deutschland zurück.


Für Heynowski, Scheumann und Hellmich war der Film der Paukenschlag zum Auftakt einer längeren Phase der Zusammenarbeit. 1969 erhielten sie für ihr „Studio H&S“ den Status einer OHG, der eine gewisse Unabhängigkeit von der Kultur- und Medienbürokratie der DDR sicherte. Hellmich war als bundesdeutscher Materialbeschaffer mehr oder weniger heimlich mit an Bord. Von 1965 bis zu einer ziemlich offen medienpolitische Missstände aufzeigenden Rede Scheumanns auf dem IV. Kongress der Film- und Fernsehschaffenden am 16.9.1982 produzierte das Studio H&S pro Jahr bis zu sechs Dokumentarfilme, von denen einige auch ins Ausland verkauft werden konnten. Nach Scheumanns Rede, die die Auflösung des Studios zur Folge hatte, arbeiteten die renommierten Filmemacher als „Werkstatt H&S“ weiter, allerdings ohne Sonderrechte. Die lange währende informelle Mitarbeit Scheumanns (und Hellmichs) bei der Staatssicherheit hatte den Sturz vielleicht abfedern, aber nicht verhindern helfen. 1990, mit dem Ende der DDR, endete die Zusammenarbeit von Heynowski und Scheumann (Daten zu H&S nach Steinmetz/Prase 2002).


Zu vielen Filmen von H&S erschienen im Verlag der Nation Bücher in Form von preiswerten Paperbacks, was überraschenderweise in der sonst ausführlichen Literatur über die Filme von H&S noch nicht einmal am Rande thematisiert wurde (Steinmetz/Prase 2002 bzw. Böttcher/ Kretzschmar/Schier 2002). Der Band „Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders“ enthält neben dem vollständigen Text des Interviews die Schilderung der Vorgeschichte und der gerichtlichen Auseinandersetzung danach sowie eine Auswahl an Pressestimmen und Zuschriften von Leuten, die den Film im Fernsehen oder später im Kino gesehen hatten. Die von Hans-Joachim Schauß gestaltete Broschur wurde 1966 trotz „einiger Mängel vom Druck her“ unter den schönsten Büchern der DDR ausgezeichnet und in 80000 Exemplaren gedruckt. Hinzu kamen mehrere ausländische Editionen und sogar eine Schallplatte mit Originalton! Das Buch enthält u.a. die Transkription des Interviews und zur Illustration eine Sequenz von ganzseitigen Porträtfotos aus der Studiosituation mit Müller, die von einem Block aus drei Bildern vom Geschehen im Kongo durchbrochen wird (ähnlich wie im Film; zwei der Fotos in anderen Ausschnitten auch in „Kannibalen“). Das letzte Foto jener Sequenz zeigt formatfüllend nur noch den lächelnden Mund Müllers. Das letzte Foto im Buch ist in Farbe: Müller im Freizeitdress mit seinem Hund vor seinem Haus in Südafrika. Wichtig war auch die Abbildung auf der Rückseite des Umschlages: Müller zivil in Anzug und Krawatte, aus Froschperspektive gesehen, lässig ein Glas in der rechten Hand haltend.



"Kannibalen"


Vermutlich auf Grund des großen Aufsehens, das der Film und sein 1965 ebenfalls zum Thema Söldner im Kongo gedrehter Vorgänger „Kommando 52“ (Regie Walter Heynowski) erregte (vgl. Köhler 1966), erschien 1967 das von Wolfgang Geisler gestaltete Buch „Kannibalen“ wiederum im Verlag der Nation und in einer relativ hohen Auflage von 13000 Exemplaren. Auch dieses Werk wurde zu den „schönsten“ Büchern der DDR gezählt und 1988, zusammen mit dem „lachenden Mann“ und den „Piloten im Pyjama“, unter den bemerkenswertesten Produktionen des Verlages genannt.


Der Schutzumschlag zeigt auf der Vorderseite einen salutierenden Mann, der hinter einem aufgespießten Totenschädel steht. Im Buch erfährt man, dass sich hier der Leutnant Mazy in Positur gestellt hat. Der Titel läuft in großen Lettern über fast die gesamte Breite des Buches. Auf der Rückseite des Umschlages ist ein Farbfoto eines Brandes zu sehen. Dessen genauer Sinn erschließt sich erst nach Lektüre des Buches. Der Klappentext erläutert: „Heynowski & Scheumann legen hier einen in seiner Art einmaligen Bilddokumentarband vor, der von Massenmördern fotografiert wurde. Von modernen Kannibalen, die so zivilisiert sind, daß sie ihre geschundenen Opfer nicht mehr selbst verzehren. Von abendländischen Kannibalen, die im Namen westlicher Freiheit und christlicher Kultur ganze Völker abschlachten. Von poetischen Kannibalen, die sich Fotoalben zur Selbstbespiegelung anlegen und Beethoven-Sonaten lieben. Es entstand ein ‚abendländisches Poesiealbum‛, bei dessen Anblick man keine Muße für Poesie mehr findet. Mit Bildern aus dem heißen Kongo, bei denen man friert. Ein Tatsachenbuch, das man für eine Wahnvorstellung halten möchte und das doch wahr ist.“


Am Anfang steht der Ausruf: „Die Welt soll es wissen!“ Als Prolog dienen Bilder ausländischer, vorzugsweise bundesrepublikanischer Söldner im Vietnamkrieg. „Die bundesdeutsche ‚Geisterarmee‛, so heißt es, ‚lernt schmutzig kämpfen‛ – dieses Buch dokumentiert bundesdeutsche ‚schmutzige Krieger‛ in Aktion“ (S.23). Man möchte aufklären darüber, wie im Kongo Krieg geführt wurde, wie in Vietnam geführt wird und eines Tages in Europa geführt werden soll (S.22). Die Todesanzeige des 1966 in Vietnam gefallenen Söldners Franz Prediger aus Mannheim taucht später nochmals auf im Buch „Ich schwöre“ über die NVA (Berlin 1969, S.155).



Die Bildbeschaffung


Der Hauptteil enthält mehrere Standfotos sowie Zitate aus dem Film „Der lachende Mann“, Aufnahmen aus „Kongo-Müllers Fotoalben“ und von den Recherchen im Vorfeld des Films. Woher die Fotos und reproduzierten Dokumente genau stammten und was sie eigentlich zeigen, wird nicht immer deutlich. Im Filmbuch zu „Der lachende Mann“ heißt es dazu: „Aber die größte Hilfe erhielten wir von der kongolesischen Freiheitsbewegung. Neben persönlichen Briefen und anderen Effekten von umgekommenen westdeutschen Söldnern war uns eine erbeutete Postsendung des ‚Kommando 52‛ die wertvollste Unterstützung. Einige nach Westdeutschland adressierte … Päckchen erhielten unentwickelte Filmbüchsen … Als wir diese Filmrollen ins DEFA-Kopierwerk brachten und kurze Zeit später erregt die Szenen zum erstenmal anschauten, erlebten wir eine Sternstunde unseres Berufes. Mörder entlarvten sich durch ihre eigenen Bilddokumente!“ (S.8/9). Wenn das stimmte, würden die im Kongo aufgenommenen Bilder die Sicht der Söldner auf die Geschehnisse zeigen. Im Bildnachweis in „Kannibalen“ sind 51 der insgesamt etwa 219 Abbildungen bzw. Bildseiten (davon zehn in Farbe) nachgewiesen: 31 aus Kongo-Müllers Alben, sechs von Peter Hellmich, sechs aus dem Archiv der NBI, drei von Thomas Billhardt, zwei von der westdeutschen Quick, zwei privat und eines von der Lufthansa. Das Buch umfasst neben Zeichnungen und Reproduktionen etwa 200 Fotos, davon fünf in Farbe und mehrere, darunter das Titelbild, deutlich sichtbar retuschiert (S.130 und 186). Wie auch immer man rechnet, es fehlt in ca. 168 Fällen der Bildnachweis. Selbst das auf S. 238 wiedergegebene Foto der tätowierten Menschenhaut aus dem KZ Buchenwald wurde keinem Urheber zugeordnet.


Die offenbarten Bildnachweise festigen den Rang als „Tatsachenbuch“, die fehlenden sind dagegen der in der Tat konspirativen Bildbeschaffung geschuldet. Im Kannibalen-Buch wird dies nur am Rande thematisiert. In einem im Faksimile wiedergegebenen Brief werden zwei Kodak Tri-X-Filme und zusätzliches Perutz-Material erwähnt (S.35). Neben dem Söldner Peter scheint auch der Briefschreiber namens Hans Uhlarz fotografisch (und selbstverständlich mit Feuerwaffen!) „geschossen“ zu haben. Der genannte Brief von „Hans“ und die Kodak-Filme seines Kameraden „Peter“ seien bei einem von den Freiheitskämpfern „niedergestreckten“ Söldner (das müsste der Leutnant Louw gewesen sein) gefunden worden (S.36). Auch noch andere Perutz-Filmrollen (für Laufbilder) seien „erbeutet“ worden (S.31). Kein Problem, wenn die ansonsten scharf kritisierte (S.179ff.) Leichenfledderei nur einem guten Zweck diente… Die schönen Abenteuergeschichten über die Bildbeschaffung – wer weiß, ob sich diese überhaupt so abgespielt hatten – passten gut zum Charakter der Filme und Bücher, betrafen aber nur einen (kleinen) Teil des bereits für den Film „Kommando 52“ verwendeten Materials. Dieses kam im Wesentlichen ausgerechnet aus dem Land, gegen das sich Heynowski, Scheumann und Hellmich mit diesem Projekt richteten, nämlich aus der Bundesrepublik Deutschland.


In Otto Köhlers 1966 erschienenen, vor allem aus Zitaten gespeisten Dokumentation des Falles „Kongo-Müller“ sind einige mit durchaus sarkastischen Kommentaren versehene Aufnahmen enthalten, die sich 1967 auch in „Kannibalen“ finden. Köhler nennt als Urheber den Hamburger Stern-Reporter Gerd Heidemann. Von Heidemann (geb. 1931), dem späteren „Entdecker“ der gefälschten Hitler-Tagebücher, stammte aber nicht nur das Dutzend Fotos in Köhlers Buch, sondern auch das Gros der Bilder, die Heynowski und Scheumann verwendet hatten (vgl. Steinmetz/Prase 2002, S.78f.; Bunnenberg 2007, S.93). Heidemann war 1964 zusammen mit zwei Kollegen zweimal vor Ort im Kongo und hatte über diese Reisen eine dreiteilige Reportage im Stern veröffentlicht. Heidemann hatte sich für diesen Höllentrip europäischen Söldnern angeschlossen und stieß, wie von der Redaktion gewünscht, auf Müller und seine Truppe und nebenbei auch noch auf den als Missionar wirkenden Sohn Martin Bormanns… (Koch 1990, S.85ff.). Für seine in im November und Dezember 1964 im Stern erstveröffentlichten Bilder erhielt Heidemann ein „Diplom der ersten Klasse“ beim „World Press Photo“ Wettbewerb 1965. Heidemanns Fotos wurden mehrfach in anderen Zeitungen nachgedruckt. Der Chefredakteur des Sterns, Henri Nannen, renommierte und warb mit seinem Fotoreporter: „Die Wahrheit berichten, heißt die Welt zum Besseren ändern“ (Koch 1990, S.105 und S. 174).


Peter Hellmich hatte aufgrund der Veröffentlichungen den Kontakt zu Heidemann gesucht, Bild- und Textmaterial zum Kopieren erhalten und dabei einen Vertrag unterzeichnet, der genau das untersagte, was später für die Filme und Bücher geschah, nämlich die Publikation in einer Zeitschrift oder in einem Fernsehprogramm des In- oder Auslands. „Ausserdem versichere ich, daß mit diesem Material keine Propaganda gegen die Bundesrepublik Deutschland getrieben wird.“ Außerdem dürfe der Stern nicht als „Urheber dieser Bilder“ genannt werden, woran sich Hellmich & Co tatsächlich strikt hielten. (Bunnenberg 2007, S.90). Die Leser aus der DDR konnten daher nicht erfahren, wer tatsächlich die Ende 1964/Anfang 1965 weit verbreiteten Fotos gemacht hatte; ihnen standen Stern, Quick, Konkret, das Buch von Köhler etc. nicht zur Verfügung, sondern nur die Legenden, die von Heynowski, Scheumann und Hellmich gestrickt worden waren.


Umgekehrt zeigte sich der DDR-Verlag der Nationen zugeknöpft, als es um Abdruckrechte für das Interview Müllers in der BRD ging; eine entsprechende Anfrage wurde abschlägig beschieden, weil ein für Otto Köhlers Buch geplanter Beitrag von Alexander Mitscherlich in Ostdeutschland nicht genehm war (Köhler 1966, S.73ff.).


Nebenbei: Der anfangs misstrauische Kongo-Müller kannte Heidemann ja aus dem Kongo und fragte diesen sogar kurz vor dem gefilmten Interview um Rat, was von Hellmich zu halten sei, erhielt aber von dem Mann vom Stern keine Antwort (Bunnenberg 2007, S. 95 und 99). Warum eigentlich nicht? Gab es dafür Gründe? Immerhin soll Heidemann seit 1953 mit Wissen der westlichen Dienste als Informant der Stasi geführt worden sein (Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Gerd_Heidemann) – wie Hellmich und Scheumann (beide seit 1957, Steinmetz/Prase 2001, S.32 und 162ff.). Nicht vorgewarnt tappte Müller also in die Interviewfalle, die wenige Tage vor der Uraufführung des Films „Kommando 52“ zuschnappte.



Die Kannibalen-Fotos


Die Bildstrecken in „Kannibalen“ beschäftigen sich mit dem Treiben der Söldner, vor allem mit ihrem tödlichen Geschäft. Schließlich erfährt man, dass auch die unangenehmen Botschafter des westlichen Imperialismus zu Opfern geworden seien („Auf dem Felde der Unehre geblieben“, S.220ff.). Auf Seite 88 beginnt eine Sequenz, in der unter dem mehrfach wiederholten Bildtext „Kannibalen” einzelne Söldner bis hin zu Siegfried Müller namentlich und mit biografischen Details vorgestellt werden. Zum Söldner Köhlert gab es noch einen weiteren Film von H&S: Der Fall Bernd K. (1967).


Höhepunkt des Buches ist eine Folge von (laut Bildnachweis aus Müllers Alben stammenden) Farbbildern zwischen den Seiten 146 und 153 samt den vorausgehenden und anschließenden Seiten. Es beginnt mit Privatbildern aus Müllers Alben und einem von Hellmich während der Vorbereitung zum Film gemachten Schnappschuss aus dessen Wohnzimmer im hessischen Langen. Es folgt ein unverdächtiger, aus dem Kongo an Müller adressierter Briefumschlag mit vielen bunten Briefmarken („philatelistische Neigungen“, S.142) und einer Doppelseite „Naturfreund Kongo-Müller“ samt rahmender Zeichnungen des begeisterten Hobby-Künstlers. Auf Seite 146 liest man. „Um jeden Marienkäfer würde er einen Achtungsbogen machen…“, auf Seite 147 sieht man das kleine rote Insekt, und nach dem Umblättern heißt es dann lapidar: „Kein Marienkäfer“. Das nebenstehende ganzseitige Farbfoto zeigt einen entstellten Leichnam eines Schwarzen, der mitten auf einem Weg liegt. Dies wird mit dem Foto eines knochigen Torso wiederholt und die nächste Doppelseite bringt die Erklärung, was mit dem Brandbild auf der Rückseite des Schutzumschlages gemeint ist: Ein Leichnam wird verbrannt („für besonders eindrucksvolle Szenen: Agfa-Color“). Man erkennt den Schädel und erahnt weitere Knochen. (S.153). Die nächste Seiten stellen Müllers „Dienstherren“ Moise Tschombé als Verbündeten des Westens beim Besuch bei Bundespräsident Heinrich Lübke und sogar an der Berliner Mauer vor. Die filmisch gedachte Montage der Doppelseiten lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Hohn und Spott werden dem Westen in einer Doppelseite mit drei Fotos einer Darbietung im „Europa-Kabarett“ in Frankfurt/Main zuteil. Hellmich hatte eine halb bekleidete Dame fotografiert, die sich lasziv auf und in einem Sarg räkelt und dabei mit einem Totenkopf hantiert (S.198/199). Direkt davor war das Foto des Leutnants Mazy von der Vorderseite des Schutzumschlags zu sehen und außerdem zur Erläuterung das Zitat einer Sensationsstory über Totenköpfe als Souvenirs aus der Illustrierten Quick (S.192-196). Am Ende gibt es ein Kontrastprogramm von weißen Söldnern und schwarzen Opfern (S.242-259), es wird an Patrice Lumumba erinnert (S.260-265) und es erfolgt der Appell an die guten Deutschen in der DDR, Blut für das „kämpfende Volk in Vietnam … herzugeben“ (S.267). Das letzte Bild zeigt einen Arm eines Blutspenders, dessen Faust geballt ist (auch dazu gab es einen Film von H&S: 400 cm³, 1967). Der Text schließt mit dem Ausruf: „Die Welt ist gewarnt!“ (S.271).


Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass das enthüllende und aufklärerische Buch im Rückblick lächerlich oder ideologisch und politisch verwerflich sei oder wegen der dubiosen Materialbeschaffung zu verdammen wäre. Es ist von Anfang an, bereits angesichts des Schutzumschlages, klar, dass die Autoren im Mantels der Dokumentaristen Propaganda für eine als richtig und unterstützenswert erachtete Sache betrieben: für den Kampf um Entspannung und gegen den Krieg und den westlichen, sprich den vermeintlich westdeutschen Imperialismus. Thematisiert wurden der abgeschlossene Konflikt im Kongo und der noch tobende Vietnamkrieg. Damit leitete der Bildband über zu dem vierteiligen Dokumentarfilm, den H&S als nächstes Großprojekt realisierten: „Piloten im Pyjama“ (1968). Wieder gab es ein Buch zum Film. Die Fotos in diesem Band stammten von Thomas Billhardt, das Layout besorgte erneut Hans-Joachim Schauß. Auch dieses Buch wird wieder zu den besten der DDR gezählt. „Das Buch zum Film wurde zu einer Art Markenzeichen, ein Leserinteresse an diesem Artikel hat sich immer wieder bestätigt… Es geht also nicht um die Frage, ‚Film oder Buch‛. Das ist keine echte Alternative. Aber: ‚Film und Buch‛ - ‚Buch und Film‛ – da ist eine vorzügliche Kooperation nicht nur möglich, sondern auch nötig.“ (Heynowski & Scheumann, Stehend auf zwei Gäulen, in: Schauß 1988, S.52/53). Das „Kannibalen“-Buch ist einerseits eine eigenständige Publikation und hängt andererseits eng mit fünf Filmen von Heynowski und Scheumann aus den Jahren 1965-67 zusammen.


„Kannibalen“ setzte sicherlich nicht in jeder Hinsicht Maßstäbe. Wenn auch Gerd Heidemann als Autor eines Teils der Bilder einen renommierten Preis für die Erstveröffentlichung erhalten hatte, entsprachen Bildgestaltung und -qualität des verwendeten Materials über weite Strecken dem privaten oder konspirativen Millieu, aus dem es stammte. Das musste wohl auch so sein, um das Buch überzeugender wirken zu lassen. Zwei weitere in der DDR als „schönste“ Bücher herausgestellte Werke zu Dokumentarfilmen über Befreiungskämpfe sehen ganz anders aus: Dirk Alvermann hatte für „Algerien“ (1960) mit geschultem Blick selbst fotografiert und die auch als Einzelbilder überzeugenden Bilder für sein innovatives Layout verarbeitet. Anders als zu dem von Kurt und Jeanne Stern konzipierten und von Hans-Joachim Schauß gestalteten Band „Unbändiges Spanien“ (1964) gab es zu „Kannibalen“ keinen Film, aus dem man Bilder hätte direkt herauskopieren können. Es wäre spannend zu untersuchen, ob und wie die Gestaltung der Filmbücher des Studios H&S in Details beispielweise von den beiden Frühwerken Dirk Alvermanns (neben „Algerien“ noch „Keine Experimente“, 1961) oder von Bert Brechts „Kriegsfibel“, die 1955 in dem von Heynowski gegründeten Eulenspiegel-Verlag erschien, inspiriert gewesen sein könnte.


Wolfgang Geisler gestaltete 1967 neben „Kannibalen“ mit „KriegsErklärung“ noch ein weiteres Antikriegsbuch, dessen Rückgrat zwei längere Gedichte von Volker Braun bilden und das mit Fotos aus dem Vietnamkrieg illustriert ist. Alle Beteiligten an „Kannibalen“ dürften Robert Lebecks erstes, von der Illustrierten Kristall herausgegebenes Buch „Afrika im Jahre Null“ (1961) gekannt haben, in dem u.a. der Anfang des Krieges im Kongo thematisiert wird. Für diese klassische Fotoreportage konnte man aus einem riesigen Fundus von etwa 15000 Aufnahmen schöpfen, darunter auch die berühmte Serie um den Degendiebstahl in Leopoldville (aus Kristall Nr.16/1960). Lebecks Buch bemühte sich um informative Sachlichkeit, was vielleicht ein Vorbild für Gerd Heidemann, aber sicherlich nicht für „Kannibalen“ war. In der Konzeption als Montage aus „gefundenem“ Bildmaterial ähnlich und vom Thema verwandt war Klaus Staecks 1971 erstmals erschienenes politisches Künstlerbuch „Pornografie“ über Gewalt und deren Darstellung.


Den vom Engagement für eine gute Sache getragenen Autoren und dem Gestalter gelang mit „Kannibalen“ jedenfalls ein Fotobuch par excellence. Es braucht keinen Vergleich zu scheuen. Dazu tragen das großzügige Layout mit den vielen Leerstellen und Weißräumen, die schnörkellose Typografie und der überlegte Einsatz von farbigen Abbildungen bei. Mit aus dem Film adaptierten Mitteln der Montage, mit Wiederholungen, mit entlarvenden Gegenüberstellungen, sarkastischen Texten und überhaupt einer geschickten Mischung aus einer diffusen Objektivität und polemischen Schärfe, sprich effektiver Propaganda, weiß es als Buch immer noch zu überzeugen. Oder sollte man besser sagen: zu überrumpeln? Jedenfalls brennt sich dieses grandiose, stellenweise drastische Werk fest in das Gedächtnis des Lesers ein, auf dass er für „Kannibalismus“ jeder Art immunisiert werde. Wie nicht anders zu erwarten, musste die von Heynowski & Scheumann verabreichte Schutzimpfung in Sachen Moral, Anstand und Menschlichkeit trotz der hohen Dosis wirkungslos bleiben. Oder haben etwa die Fotos aus den befreiten Konzentrationslagern oder die Bücher von Gilles Peress die Weltläufte verändert?


Thomas Wiegand



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Bibliographie


Werke Heynowski & Scheumann:


Walter Heynowskis/Gerhard Scheumann/Peter Hellmich, Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders, Deutscher Fernsehfunk 1966, Wiederveröffentlichung auf DVD (Verlag und Antiquariat für Zeitgeschichte, Bad Dürkheim)


Walter Heynowski/Gerhard Scheumann, Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders, Fotos Peter Hellmich, Gestaltung Hans-Joachim Schauß (Gruppe 4), Verlag der Nation Berlin 1966, 1.-40.Tsd., Softcover im Format 20,4 x 14,5 cm, 176 S., 18 ganzseitige Schwarzweißfotos, zwei Karikaturen und einige weitere Abbildungen, davon eine in Farbe. 2.Auflage Berlin 1966, 41.-80 Tsd. mit 159 S.(?). Es erschien außerdem ein vom Deutschen Fernsehfunk herausgegebenes Textheft, weiterhin eine Schallplatte mit dem Interview sowie das Buch in polnischen, russischen, serbokroatischen und ungarischen Ausgaben und auch eine englischsprachige Broschüre (nach DNB/KVK).


Walter Heynowski/Gerhard Scheumann, Kannibalen. Ein abendländisches Poesiealbum in Selbstzeugnissen, Mitarbeit Peter Hellmich, Gestaltung Wolfgang Geisler, Verlag der Nation Berlin 1967, schwarzes Leinen mit illustriertem Schutzumschlag, Format 24 x 20,5 cm, 272 S., Auflage 13000 Exemplare, 219 Abb. (davon 10 in Farbe)


Heynowski & Scheumann, Piloten im Pyjama, Fotos Thomas Billhardt, Gestaltung Hans-Joachim Schauß (Gruppe 4), Verlag der Nation Berlin 1968, 416 Seiten im Format 22,5 x 16 cm, 1. Auflage 1.-80. Tsd. Der Band erschien auch in russischen und westdeutschen Ausgaben.



für diesen Beitrag ausgewertete Sekundärliteratur zu Müller und zu Heynowski & Scheumann:


Annelie und Andrew Thorndike/Karl Raddatz, Urlaub auf Sylt, Berlin 1958


Ernst Petry, Gerd Heidemann (Fotos), Die Straße der Landsknechte, in: Stern Nr.47 – 22.11.1964, Nr.48 – 29.11.1964 und Nr.49 – 6.12.1964


Gerd Heidemann, Stanleyville, in: Konkret Nr.1/1965, S.19ff und Nr.2/1965, S.14ff.


Walter Heynowski, Und morgen die ganze Welt?, Teil 1: Kongo-Müllers Fotoalben, in: Neue Berliner Illustrierte (NBI) vom 2.2.1966 (S.12ff.), Teil 2: Kongo Müllers Legionäre, in: NBI vom 9.2.1966 (S.17ff.) Teil 3: Das Interview, in: NBI vom 16.2.1966 (S.12ff.)


Otto Köhler, Kongo-Müller oder Die Freiheit, die wir verteidigen, mit zwei Textbeiträgen von Yaak Karsunke und Alexander Mitscherlich, Frankfurt (Main) 1966


Spiegel deutscher Buchkunst 1966 (= Die schönsten Bücher des Jahres 1966), Leipzig 1967


Die schönsten Bücher des Jahres 1967 der Deutschen Demokratischen Republik, Leipzig 1968


Die schönsten Bücher des Jahres 1968 der Deutschen Demokratischen Republik, Leipzig 1969


Retrospektive H&S Heynowski & Scheumann, hg.v. Unidoc Film GmbH Erwin Jedamus, München 1976


Hans-Joachim Schauß (Hg.), Buchenswert. Notizen über das Büchermachen – Verlag der Nation 1948-1988, Berlin 1988


Peter-Ferdinand Koch, Der Fund. Die Skandale des Stern – Gerd Heidemann und die Hitler-Tagebücher, Hamburg 1990


Rüdiger Steinmetz/Tilo Prase, Dokumentarfilm zwischen Beweis und Pamphlet – Heynowski & Scheumann und Gruppe Katins, Leipzig 2002


Claudia Böttcher/Judith Kretzschmar/Corinna Schier, Heynowski & Scheumann – Dokumentarfilmer im Klassenkampf. Eine kommentierte Filmographie, Leipzig 2002


Christian Bunnenberg, Der Kongo-Müller: Eine deutsche Söldnerkarriere, Berlin/Münster 2007


Jörn Glasenapp, Der Degendieb von Leopoldville, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder – 1949 bis heute, Göttingen 2008, S.242ff.


Siegfried Ressel (Regie), Kongo Müller (Dokumentarfilm, Erstsendung 2.11.2011 Arte)



weitere Fotobücher:


Bertolt Brecht, Kriegsfibel, hg.v. Ruth Berlau, Eulenspiegel Verlag Berlin 1955 (Gestaltung Peter Palitzsch)


Dirk Alvermann, Algerien – L'Algerie, Rütten & Loening Verlag Berlin 1960 (Gestaltung Lothar Müller und Dirk Alvermann, siehe www.fotokritik.de/_artikel_40_1.html)


Robert Lebeck, Afrika im Jahre Stunde Null – Eine Kristall-Reportage, Kristall im Verlag Hammerich & Lesser, Hamburg 1961 (Text Horst Bausch, Gestaltung Jürgen Wulf)


Kurt und Jeanne Stern, Unbändiges Spanien, Verlag der Nation Berlin 1964 (Gestaltung Hans-Joachim Schauß)


Volker Braun, KriegsErklärung, Mitteldeutscher Verlag Halle 1967 (Gestaltung Wolfgang Geisler)


Klaus Staeck, Pornografie, hg.v. Hans Christoph Schmolck, Anabas Verlag Steinbach/Gießen 1971, 2.Auflage (mit einem Essay von Peter Gorsen), Steidl Verlag Göttingen 1978, 3.Auflage Steidl Göttingen 2007

13.05.2009


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Schlagworte: Heynowski & Scheumann, Kannibalen, Der lachende Mann, Kongo-Müller, Siegfried Müller, Gerd Heidemann